Kein Schlaf mehr. Eine klare Morgendämmerung; Yoga wäre jetzt nicht schlecht. Sollte ich nun etwas Frühsport treiben, um in Form zu bleiben? Eher nicht, denn die Pflicht ruft. Rastlos raffe ich mich auf und gerate ins Stocken, als ich die Nachricht erblicke. Ich weiß nicht, woher sie stammt. Sie ist klein und unscheinbar. Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick, als wäre sie direkt an mich gerichtet. Wäre da nicht der entscheidene kleine Text. Irrläufer. Echt jetzt? Das kann doch nicht sein. Ein Irrläufer ist doch in der heutigen, begrenzten Kommunikation fast ausgeschlossen. Reichlich merkwürdig. Augenscheinlich ist diese Nachricht nicht an mich gerichtet. Kein anderer Empfänger ist zu sehen. Total fassungslos stehe ich vor einer folegenschweren Entscheidung. Irgendwie beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Vielleicht steckt mehr dahinter, als ich mir eingestehen mag.
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Ein Irrläufer von einer gewisen Nina Johanson. Dieser Name... irgendwo habe ich ihn doch schon einmal gelesen. Wo war das noch gleich...?
Eine Assoziation mit einer Teenagerin macht sich breit und im Dämmerzustand zwischen Schlaf und Erwachen trifft mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag ins Gesicht. Dieses Mädchen, die heimliche Warnung...
Verdammt! Ich habe doch nur etwas gelesen. Nur etwas gespielt mit den Worten und Buchstaben. Woher weiß sie das alles? Woher weiß sie, dass ich ihre erste Nachricht gelesen habe? Oder hat ihr vielleicht jemand von mir erzählt? Jemand, der mich im Stille beobachtet? Ganz ruhig... die letzten Wochen haben mich bestimmt wieder etwas paranoid werden lassen. Alles gut... Aber ich kann einfach nicht anders.
Ich gebe zu, ich habe mich in letzter Zeit etwas aus meiner persönlichen Komfortzone gewagt. Heimlich, raus aus meinem kleinen Mikrokosmos, der manchmal auch nach der großen Welt da draußen giert und so manche Gelegenheit nutzt, um über den Eisbecher mit Vanilleeis zu schauen. Meine kleine Welt ist perfekt und meist friedlich, aber... da ist so viel mehr.
Ich versuche mich zu beruhigen. Bestimmt war es alles nur ein Zufall. Ein Schuss ins Blaue. Wie ein Trick dieser Mentalisten, die um die Jahrtausendwende auf den heimischen Fernsehern ihre Taschenspielertricks vorgeführt haben. Wie hieß er noch? Goldfake oder so ähnlich. Keine Ahnung. Es war jedenfalls ein Schuss ins Blaue, der getroffen hat. Wie viele Schüsse gab es wohl noch? Wurde noch jemand getroffen oder aufgescheucht? Ich muss es wissen.
Ich wette, ich bin nicht die Einzige. Es ist eindeutig, wer mit "er" gemeint sein muss, bzw. wen das Mädchen namens Nina darin gelesen haben möchte. Natürlich kann es sich dabei nur den Einen handeln, der im Hintergrund gerne Fäden spinnt und daran nach Belieben zieht. Ein Gefühl aus Hitze wechselt sich mit einem kalten Schauer. Obwohl wir uns noch nie persönlich begegnet sind, weiß er von mir und kennt mich nur zu gut.
Tja und da prangert er. Der Knopf zur Nachricht. Er ist wie ein Versprechen. "Ein Klick und die Nachricht gehört dir, auch wenn sie nicht für dich bestimmt ist!" und "Befriedige deine Neugier! Komm schon, tu es!"
Ich schiebe die Stimme zur Seite und versuche neutral an die Sache zu gehen. Wer wohl der eigentlich Empfänger gewesen ist? Viel zu erkennen gibt es nicht. Würde es sich um eine Postkarte handeln, wäre die Sache einfach. Jeder kann sie lesen; keine Privatsphäre, die man verletzten könnte und es gäbe einen klaren Empfänger. Ebenfalls so bei einem Brief. Aber hier Es scheint eine private Nachricht zu sein und die Zeilen sind offenbar nicht für mich bestimmt. Das alles ist ein Irrtum, eine versehentliche Weiterleitung. Aber dennoch zögere ich. Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass dies alles ein Versehen ist. Nicht, nachdem ich ihre Nachricht gesehen habe. Trotzdem... soll ich die Nachricht lesen? Ist es überhaupt ethisch vertretbar, in die Privatsphäre eines anderen einzudringen, selbst wenn es unbeabsichtigt geschieht?
Gerade bei Teenagern ist das besonders...heikel...
Ach... was mache ich mir vor? Was immer ich tue, es wird in diesem Fall alles, nur nicht nicht unbeabsichtigt sein. Das kauft mir keiner ab und ich würde mich nur selbst belügen.
Ein leises Zögern macht sich in mir breit, begleitet von einem Gefühl der Neugierde. Vielleicht braucht jemand Hilfe, Unterstützung, ein offenes Ohr? Vielleicht ging die Nachricht ja eigentlich an die andere Person, die Nina ein offenes Ohr angeboten hatte? Wenn ich nur wüsste, wer der eigentliche Empfänger war. Dann könnte ich alles aufklären und ein reines Gewissen behalten.
Vielleicht gibt es Hinweise in dieser Nachricht, die auf eine dringende Notlage oder den Empfänger hinweisen könnte. Doch andererseits fühle ich mich absolut unwohl bei dem Gedanken, in etwas Einblick zu nehmen, das nicht für mich bestimmt ist. Es ist eine Frage des Respekts vor den persönlichen Angelegenheiten anderer, von denen ich aufgrund meiner selbstgewählen Isolation im anderen Chernarus nur allzu wenig verstehe.
Ich grübele lange nach. Der Knopf leuchtet eindringlich weiter. Ein Versprechen... Ich schließe die Augen und atme tief ein. Wie auch immer meine Entscheidung aussehen wird, ich werde dazu stehen.
Ich wiederhole mein Mantra, dann steht meine Entscheidung fest.
Ich entscheide mich dagegen, die Nachricht zu öffnen. Ich weiß, dass es besser ist, die Privatsphäre anderer zu respektieren. Die Zeiten mögen sich geändert haben, aber ich möchte dennoch etwas Respekt und Anstand waren. Auch wenn ein Funke Neugierde mich dazu verleiten möchte, bleibe ich standhaft.
Die Nachricht wird ungeöffnet bleiben, und ich werde darauf vertrauen, dass derjenige, für den sie bestimmt war, den richtigen Umgang damit findet. Aber was, wenn die Person die Nachricht nun gar nicht bekommen kann? Was, wenn darauf vertraut wird, dass ich sie dem eigentlichen Empfänger weiterleite? "Es gibt mehrere Schüsse...", flüstert meine andere Stimme wieder in mein Ohr. Bestimmt. Dennoch... wie kann man mit einem Unbekannten in Kontakt treten? Ein öffentlicher Aushang vielleicht? Was sollte darin stehen? "Falls du einen Brief vermisst, melde dich bei mir. Ich habe versehentlich einen bekommen." Könnte ich machen, aber woher wüsste ich dann, dass die Person, die sich meldet, auch wirklich der oder die Empfängerin ist? Das ist alles so verwirrend! Ich bin doch nur ein kleines Licht am Ende des Tunnels...
Früher wäre das im Zweifelsfall ein Fall für die Polizei, doch die hätte auch nur müde gelächelt. Ich meine... ernsthaft! Ein Brief, der fehlgeleitet wurde. Zurück zur Post, Empfänger unbekannt und Basta.
Tja und heute? Heute gibt es das alles nicht mehr.
Kurz überlege ich, die Nachricht vielleicht ungeöffnet an die UNOC weiterzuleiten. Die sind doch für Ermittlungen zuständig, oder? Allerdings hatten wir noch keine wirklichen Berührungspunkte. Soll heißen, ich bin auf meinen spärlichen Reisen bisher noch nicht in ihre Gebiete durchgedrungen. Und Hand auf's Herz: Ich habe keine Ahnung, wo sich genau ihr Hauptquartier befindet. Es würde auf jeden Fall mehrere Tage dauern, bis mich meine Wege von Solnichniy dorthin führen würden. Vorausgesetzt, ich finde genügend Proviant, eine Karte oder kann mich irgendwie durchfragen. Aber selbst wenn ich unterwegs jemanden treffe, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse in und um Chernarus wäre das ein sehr gefährliches, wenn nicht sogar törichtes Unterfangen. Im Gegensatz zu meiner kleinen heilen Welt ist hier nicht jede Begegnung an der Küste gleich von Hilfsangeboten geprägt. Das haben meine Freundin Hikaru und ich vor zwei Wochen auch schon bemerkt, wobei wir dort freundlicherweise am Leben gelassen wurden. Aber es war wirklich verdammt knapp. Wie knapp, das habe ich erst im Nachhinein erfahren.
Okay, jetzt mal ganz ruhig. Bleib logisch. Ich dreh schon wieder durch... also.
Abgesehen von meinen ganzen Bedenken, handelt es sich nüchtern betrachtet lediglich um den Brief einer Teenagerin an eine mir unbekannte Person. Punkt.
Ich weiß nicht, ob so ein kleiner Brief überhaupt eine Rolle spielt für die UNOC. Ich weiß ja noch nicht einmal, was darin steht! Tja und die UNOC hat durch die aktuellen Ereignisse, die schwierige Sicherheitslage und nicht zuletzt auch Baschts Verschwinden genug zu tun, um noch zusätzlich Briefträger zu spielen. Ich meine... stell dir mal vor, es würden noch die "guten alten Zeiten" herrschen. Wie seltsam wäre es, wenn man die UN höchstpersönlich damit belästig, weil man den Brief einer Teenagerin höchstwahrscheinlich versehentlich erhalten hat. Die würden mich doch alles für verrückt erklären. Nein, damit möchte ich niemand anderen belasten. Entweder, ich finde die Person, für den er bestimmt ist, oder eben nicht. Bis dahin bleibt der Brief auf jeden Fall fest verschlossen.
So bleibt es für den Moment bei meiner Entscheidung, die Privatsphäre der unbekannten Person und natürlich die von Nina zu respektieren und die Nachricht nicht zu lesen. Dennoch... der Drang ist stark und ich frage mich, wohin das alles noch führen wird.
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