Nächster Tag, von Severograd nach Gorka

"Death surrounds
My heartbeat′s slowing down
I won't take this world′s abuse
I won't give up, I refuse
This is how it feels when you're bent and broken
This is how it feels when your dignity′s stolen
When everything you love is leaving
You hold on to what you believe in."
Das schwache Licht, das durch die Ritzen im Dachboden fällt, weckt mich. Die Nacht war wieder einmal kalt und unbarmherzig, und der harte Holzboden hat jeden meiner Muskeln schmerzhaft steif gemacht. Irgendwie habe ich keine Lust mehr, das alles aufzuschreiben. Es ist ohnehin jeden Tag immer das Gleiche, nur halt in anderen Facetten.
Ich strecke mich vorsichtig, doch der Schmerz in meinem Rücken erinnert mich sofort daran, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich meinen Körper wieder gewohnt belasten kann.
Ich richte mich langsam auf, massiere meinen steifen Nacken und betrachte den kahlen Raum. Hier oben gibt es nichts – keine Möbel, keine Annehmlichkeiten, nur Staub und Dunkelheit. Meine Zelle ist so spartanisch wie nur möglich. Keine Ablenkung, keine Hoffnung; nur ich gegen die gähnende Leere. Einzig zwei staubige Kisten stehen in der Zelle.
Mein Magen knurrt laut und ich nehme mir etwas von meinem Vorrat. Eine Thunfischdose soll es heute sein. Es ist jetzt Tag – oder zumindest scheint es so, denn durch die schmalen Ritzen dringt etwas Licht. Das einzige Geräusch, das ich hören kann, ist das gelegentliche Knarren der Dielen, wenn der Wind durch die Hütte weht.
Es dauert nicht lange, bis ich das Geräusch schwerer Stiefel auf der Treppe höre. Das Schloss des Verschlags klickt, die Tür schwingt auf, und da steht Chuck, wie immer mit dieser Mischung aus Genervtheit und Überlegenheit im Blick. In seiner Hand hält er, wie so oft, seine Waffe.
„Aufstehen! Hände hinter den Rücken!“, befiehlt er, als ich mich mühsam erhebe. Mein Schweigen hat ihn bisher nie interessiert, aber heute beschließe ich es zu brechen. Zwei Worte brechen einfach aus mir heraus.
„Und nun?“, frage ich, meine Stimme erschreckend rau vom Hunger und der Kälte. Chuck ignoriert mich und zielt weiter mit seiner Waffe auf mich. „Umdrehen, herkommen!“ Der Ton wird schärfer. Doch heute bin ich es leid. „Muss das wirklich sein?“ Ich kann nicht anders, aber ich bereue es sofort.
Er packt mich grob und legt mir die Handschellen an. Mühsam kann ich ein Stöhnen unterdrücken. Ich möchte ihm die Genugtuung nicht geben. „Mitkommen!“, schreit er und öffnet das Gitter. Während ich ihm die Treppe hinunter folge, frage ich weiter: „Heute schlechte Laune?“ Es ist dumm, ich weiß das. Aber die Worte kommen, bevor ich sie aufhalten kann. Sein Bajonett blitzt auf, und ich spüre den Stich in meiner Seite. Ein Schmerzenslaut entweicht mir, und als ich das warme Blut spüre, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Chuck greift nach einer Bandage und verbindet die Wunde mit groben Bewegungen. „Brutalo...“, murmle ich. Doch er hat offensichtlich genug. „Schlechte Laune? Schlechte Laune gleich in dein Gesicht!“ Seine Stimme ist ein Donnern, und ich schweige. Es ist nicht der richtige Tag, um den Bogen zu überspannen.
„Raus mit dir!“, befiehlt er und ich trete folgsam durch die Türen nach draußen. Dort sehe ich Jane, die bereits die Umgebung gesichert hat. „Ach, Jane ist auch wieder mit von der Partie, was?“, murmle ich vor mich hin. Mir ist inzwischen fast alles egal. „Keine Fragen stellen. Raus mit dir!“, schimpft sie und öffnet das Gartentor zur Straße. „Aber wer nicht fragt, stirbt dumm…“, beginne ich, doch es folgt keine Reaktion, außer dass Jane mich barsch unterbricht und in den parkenden Sarka scheucht: „Ab rein jetzt hier!“ „Rein in die Gute Stube!“, grinst Chuck hämisch, „Jetzt geht’s ab ins Reich der Kannibalen…“ Sein Spott lässt mich zusammenzucken, doch ich sage nichts. Ob er die Wahrheit spricht oder mir nur Angst machen will, ist egal – die Wirkung bleibt dieselbe. Mein neugewonnener Mut verlässt mich sofort wieder, als ich mit gefesselten Händen auf dem Rücksitz umständlich Platz nehme. Jane schlägt die Tür zu und steigt ebenfalls ein. Was haben diese Irren nun mit mir vor?
Die Fahrt beginnt. Es ist Tag, und wir fahren durch die trostlosen Straßen nach Süden. Der Sarka holpert über die holprigen Straßen, und die Stille im Wagen ist bedrückend. Plötzlich ein lauter Knall – der Wagen trifft einen Stein und überschlägt sich mehrmals. Die Welt dreht sich, mein Körper wird hin- und her geschleudert, und der Schmerz ist kaum zu ertragen. Doch wie durch ein Wunder landet das Auto wieder auf seinen vier Rädern. Chuck und Jane scheinen unbeeindruckt. Der Motor startet erneut, und die Fahrt geht weiter, als wäre nichts geschehen.
Die Sonne beginnt bereits zu sinken, als wir endlich Gorka erreichen. Die Kannibalen von Gorka... das hätte ich mir denken können.
Der Anblick der verfallenen Häuser und das Gefühl von Tod und Verfall lassen mir einen Schauer über den Rücken laufen. Die Kannibalen von Gorka... Ist das etwa wahr? Stecken sie hinter all dem? Meine Gedanken rasen, während Chuck mich aus dem Auto zerrt und Jane beginnt, die Tore zu öffnen.
Ich wittere meine Chance. Während Chuck Jane bei einem Code hilft, schleiche ich mich leise davon, versuche in den Schatten der Gebäude zu verschwinden. Doch es dauert nicht lange, bis Chuck mich einholt. „Wo willst du hin?“, knurrt er, bevor ich einen harten Schlag in den Rücken spüre. Er treibt mich zurück zum Auto, jeder Schlag seines Gewehrkolbens brennt in meinem Rücken. Als wir ankommen, sinke ich erschöpft vor dem Auto auf die Knie.
Dann passiert es. Ohne Vorwarnung zieht Chuck seine Waffe und schießt. Ein brennender Schmerz durchzuckt mein Bein. Ich schreie auf, unfähig, den Schock zu verbergen. Verdammt! Er hat auf mich geschossen! Zum Glück scheint es nur ein Streifschuss zu sein, doch meine Hose ist ruiniert. Ich humple zur Polizeistation, getrieben von Chucks bedrohlicher Präsenz. Mit einem letzten Aufbäumen versuche ich aus meinen Fesseln zu entkommen, während Chuck die Zombies abwehrt, die durch seinen Schuss angelockt worden sind. Doch auch hier ist er gleich wieder zur Stelle, um meine Versuche mit einem Schlag zu unterbinden. Schließlich werde ich in die Polizeistation geführt und dort in eine Gefängniszelle.
Die Zelle ist wie erwartet karg. Eine Pritsche, eine Kiste darunter, das unvermeidliche gelbe Fass und ein vergittertes Fenster. Chuck schließt mich ein, dreht sich dann noch einmal um und schlägt nach mir. „Träum was Schönes!“, spottet er, bevor er die Tür hinter sich zuschlägt. Wird das jetzt zu einer Art Signature Move bei ihm? Jane wirft mir einen letzten Blick zu, bevor sie und Chuck die Polizeistation verlassen.
Ich versuche dem Schmerz standzuhalten und schaffe es nur mit Mühe, das Bewusstsein nicht zu verlieren. Draußen stöhnen die Zombies vor dem Gitterfenster. Chuck legt das schwere Vorhängeschloss um das Gitter und schließt anschließend die Zellentür von außen ab. „Hey! Was ist mit dem Schlüssel…?“, protestiere ich, „Für die Handschellen? Ich bin immer noch gefesselt!“ „Kannst du behalten. Als Andenken!“, lacht er hämisch und ich höre, wie er und seine Begleitung die Polizeistation verlassen. In Gedanken füge ich entschlossen hinzu: „Nein, die sind für DICH reserveriert…!“. Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.
Schließlich begebe ich mich zum Fenster. Draußen steht ein rotes Gunter Wrack und der Sarka sowie jede Menge geifernde Zombies. Durch das Fenster sehe ich, wie Chuck und seine Begleitung die Zombies niederschießen. Chuck grinst mich am Fenster süffisant an, hebt seinen Arm zum Gruß und wirft mir anschließend ein Messer gegen die Gitterstäbe. „Hier fang!“, grinst er breit. Sehr witzig… Natürlich gelingt mir dies nicht mit auf dem Rücken gefesselten Händen und das Messer fällt klirrend vor dem Fenster zu Boden. Anschließend steigen beide lachend in das Auto und fahren laut hupend davon.
Tja und dann bin ich wieder allein. Die Stille in der Zelle ist fast greifbar, unterbrochen nur vom gelegentlichen Stöhnen der Zombies, die sich vor dem vergitterten Fenster bewegen. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch, der sich hinter den Gitterstäben befindet, steht eine Kiste. Sie scheint absichtlich außerhalb meiner Reichweite platziert worden zu sein – eine weitere kleine Grausamkeit meiner Entführer.
Doch ich gebe nicht auf. In meiner Tasche habe ich noch einen der rostigen Nägel, die ich vor Tagen heimlich an mich genommen habe. Vorsichtig taste ich nach dem kleinen Metallstück und beginne die mühselige Arbeit, die Handschellen an meinen Handgelenken zu lösen. Der Nagel rutscht immer wieder ab, und meine Finger schmerzen vor Anstrengung, doch nach einer schier endlosen Geduldsprobe höre ich endlich das erlösende Klicken. Die Fesseln fallen ab, und ich reibe meine schmerzenden Handgelenke.
Ich wende mich dem gelben Fass zu. „Hallo, alter Freund…“, flüstere ich. Nach den Erlebnissen in Severograd bin ich ganz froh, wieder eines dieser Fässer zu sehen, denn das bedeutet wenigstens Wasser. Als ich den Deckel öffne, entdecke ich wieder Blutentnahmesets. Scheinbar sind sie doch noch nicht mit mir fertig und das mit den Kannibalen war nur eine Behauptung, um mir Angst zu machen. Außerdem finde ich eine Dose Pfirsiche, Spaghetti und – wie könnte es anders sein – Hundefutter. Mein Magen knurrt laut, und ich beschließe, die Pfirsiche zu öffnen. Der süße Saft und die weichen Fruchtstücke sind ein kleiner Trost inmitten dieses Elends. Ich esse langsam, genieße jeden Bissen, denn ich weiß, dass ich mir alles wieder werde einteilen müssen.
Erst als mein Magen nicht mehr so schmerzt, lasse ich mich erschöpft auf das Bett sinken. Die Matratze ist dünn, und jede Feder darunter drückt sich unangenehm in meinen Körper. Doch nach der körperlichen Anstrengung heute fühlt es sich das Liegen fast wie ein Luxus an.
Die Dunkelheit senkt sich über Gorka, und das Knurren der Zombies wird zu einem monotonen Hintergrundgeräusch. Ich wende meinen Blick zum Fenster und sehe sie – die Sterne. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erblicke ich einen klaren Himmel. Ihr Leuchten ist schwach, aber beständig, und für einen Moment fühle ich eine seltsame Art von Frieden. Ich bin so bewegt, dass meine Augen sich mit Tränen füllen. Vielleicht sehen meine Freunde auch gerade jetzt auf diesen Sternenhimmel? Er ist wie eine Erinnerung daran, dass da draußen noch eine Welt existiert – eine Welt, in die ich irgendwann zurückkehren werde.