Beiträge von Herz-Aus-Gold

    Konversation mit einem Monster, Gorka

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    "It′s hiding in the dark, its teeth are razor sharp

    There's no escape for me, it wants my soul, it wants my heart

    No one can hear me scream, maybe it′s just a dream

    Maybe it's inside of me, stop this monster."




    Die Schatten des Nachmittags fallen lang, und das Licht, das durch das kleine vergitterte Fenster dringt, färbt die Zelle in einem trüben Grau. Ich sitze auf dem Boden, meinen Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, als ich es höre: das kehlige, raue Knurren der Untoten. Instinktiv bewege ich mich zum Fenster, richte mich vorsichtig auf und spähe durch die schmalen Gitterstäbe hinaus. Draußen sehe ich sie – zwei Zombies, die ziellos zwischen den verfallenen Gebäuden umherwandern. Ihre Bewegungen sind langsam und ruckartig, ihre Köpfe hängen schief. Sie sind ein grotesker Anblick, aber in meiner Einsamkeit wirken sie fast… vertraut. Und so seltsam es klingt, ich beginne, mit ihnen zu sprechen.


    „Hey“, sage ich leise und klammere mich an die Gitterstäbe. „Ja, ich meine euch. Die da draußen.“ Die Zombies knurren, als Antwort oder aus reiner Instinktlosigkeit. Ich nehme das als Einladung. „Was habt ihr so den ganzen Tag zu tun?“, frage ich und lehne meinen Kopf gegen die kalten Stäbe. „Herumwandern? Nach dem nächsten Opfer suchen? Oder genießt ihr einfach die Ruhe?“ Einer der Zombies bleibt stehen, als hätte er mich gehört. Sein Kopf zuckt in meine Richtung, und ich lache bitter. „Oh, jetzt bin ich interessant, was? Kein Fleisch hier drinnen, sorry. Ich bin genauso verloren wie ihr. Vielleicht sogar schlimmer.“ Ich mustere die beiden durch das Gitter. Ihre verfallenen Gesichter, die leeren Augenhöhlen. „Ihr wart mal wie ich, oder? Menschen. Mit Geschichten. Mit Träumen. Was ist mit euch passiert?“ Meine Stimme wird leiser, fast zu einem Flüstern. „Hat euch jemand im Stich gelassen? Oder habt ihr einfach das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein?“


    Das leise Knurren ist die einzige Antwort, die ich bekomme. Es fühlt sich seltsam an, aber irgendwie tröstlich. Sie hören mir zu. Oder ich stelle mir vor, dass sie es tun. „Ihr seid besser als Chuck und Jane“, sage ich mit einem leichten Lächeln. „Ihr seid wenigstens ehrlich. Ihr wollt nur überleben, genau wie ich. Ihr tut, was ihr tun müsst, weil ihr nicht anders könnt. Aber die beiden?“ Ich schüttle den Kopf. „Sie haben eine Wahl, und trotzdem entscheiden sie sich dafür, Monster zu sein.“ Ich rutsche wieder auf den Boden, meine Stimme sinkt noch weiter. „Vielleicht ist es einfacher, ein Zombie zu sein. Keine Angst. Keine Sorgen. Nur dieser eine Instinkt: Fressen. Ihr müsst euch nicht mit Schuldgefühlen herumschlagen… oder mit Erinnerungen.“ Die Zombies bewegen sich weiter, ihr Knurren wird leiser, während sie um eine Ecke verschwinden. Ich starre durch das Gitter hinaus, in die Leere der Stadt. „Vielleicht sehen wir uns später wieder, Jungs.“, sage ich leise. „Ich hoffe nur, dass ihr dann nicht versucht, mich zu fressen.“


    Die Stille kehrt zurück, und ich sitze noch lange dort, die Stirn gegen die Gitterstäbe gelehnt, bis die Schatten der Nacht den Raum verschlucken. Es war kein wirkliches Gespräch, aber in diesem Moment hat es sich fast wie Gesellschaft angefühlt.

    Nächster Tag, von Severograd nach Gorka


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    "Death surrounds

    My heartbeat′s slowing down

    I won't take this world′s abuse

    I won't give up, I refuse

    This is how it feels when you're bent and broken

    This is how it feels when your dignity′s stolen

    When everything you love is leaving

    You hold on to what you believe in."


    Das schwache Licht, das durch die Ritzen im Dachboden fällt, weckt mich. Die Nacht war wieder einmal kalt und unbarmherzig, und der harte Holzboden hat jeden meiner Muskeln schmerzhaft steif gemacht. Irgendwie habe ich keine Lust mehr, das alles aufzuschreiben. Es ist ohnehin jeden Tag immer das Gleiche, nur halt in anderen Facetten.


    Ich strecke mich vorsichtig, doch der Schmerz in meinem Rücken erinnert mich sofort daran, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ich meinen Körper wieder gewohnt belasten kann.


    Ich richte mich langsam auf, massiere meinen steifen Nacken und betrachte den kahlen Raum. Hier oben gibt es nichts – keine Möbel, keine Annehmlichkeiten, nur Staub und Dunkelheit. Meine Zelle ist so spartanisch wie nur möglich. Keine Ablenkung, keine Hoffnung; nur ich gegen die gähnende Leere. Einzig zwei staubige Kisten stehen in der Zelle.


    Mein Magen knurrt laut und ich nehme mir etwas von meinem Vorrat. Eine Thunfischdose soll es heute sein. Es ist jetzt Tag – oder zumindest scheint es so, denn durch die schmalen Ritzen dringt etwas Licht. Das einzige Geräusch, das ich hören kann, ist das gelegentliche Knarren der Dielen, wenn der Wind durch die Hütte weht.


    Es dauert nicht lange, bis ich das Geräusch schwerer Stiefel auf der Treppe höre. Das Schloss des Verschlags klickt, die Tür schwingt auf, und da steht Chuck, wie immer mit dieser Mischung aus Genervtheit und Überlegenheit im Blick. In seiner Hand hält er, wie so oft, seine Waffe.


    „Aufstehen! Hände hinter den Rücken!“, befiehlt er, als ich mich mühsam erhebe. Mein Schweigen hat ihn bisher nie interessiert, aber heute beschließe ich es zu brechen. Zwei Worte brechen einfach aus mir heraus.


    „Und nun?“, frage ich, meine Stimme erschreckend rau vom Hunger und der Kälte. Chuck ignoriert mich und zielt weiter mit seiner Waffe auf mich. „Umdrehen, herkommen!“ Der Ton wird schärfer. Doch heute bin ich es leid. „Muss das wirklich sein?“ Ich kann nicht anders, aber ich bereue es sofort.


    Er packt mich grob und legt mir die Handschellen an. Mühsam kann ich ein Stöhnen unterdrücken. Ich möchte ihm die Genugtuung nicht geben. „Mitkommen!“, schreit er und öffnet das Gitter. Während ich ihm die Treppe hinunter folge, frage ich weiter: „Heute schlechte Laune?“ Es ist dumm, ich weiß das. Aber die Worte kommen, bevor ich sie aufhalten kann. Sein Bajonett blitzt auf, und ich spüre den Stich in meiner Seite. Ein Schmerzenslaut entweicht mir, und als ich das warme Blut spüre, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Chuck greift nach einer Bandage und verbindet die Wunde mit groben Bewegungen. „Brutalo...“, murmle ich. Doch er hat offensichtlich genug. „Schlechte Laune? Schlechte Laune gleich in dein Gesicht!“ Seine Stimme ist ein Donnern, und ich schweige. Es ist nicht der richtige Tag, um den Bogen zu überspannen.


    „Raus mit dir!“, befiehlt er und ich trete folgsam durch die Türen nach draußen. Dort sehe ich Jane, die bereits die Umgebung gesichert hat. „Ach, Jane ist auch wieder mit von der Partie, was?“, murmle ich vor mich hin. Mir ist inzwischen fast alles egal. „Keine Fragen stellen. Raus mit dir!“, schimpft sie und öffnet das Gartentor zur Straße. „Aber wer nicht fragt, stirbt dumm…“, beginne ich, doch es folgt keine Reaktion, außer dass Jane mich barsch unterbricht und in den parkenden Sarka scheucht: „Ab rein jetzt hier!“ „Rein in die Gute Stube!“, grinst Chuck hämisch, „Jetzt geht’s ab ins Reich der Kannibalen…“ Sein Spott lässt mich zusammenzucken, doch ich sage nichts. Ob er die Wahrheit spricht oder mir nur Angst machen will, ist egal – die Wirkung bleibt dieselbe. Mein neugewonnener Mut verlässt mich sofort wieder, als ich mit gefesselten Händen auf dem Rücksitz umständlich Platz nehme. Jane schlägt die Tür zu und steigt ebenfalls ein. Was haben diese Irren nun mit mir vor?


    Die Fahrt beginnt. Es ist Tag, und wir fahren durch die trostlosen Straßen nach Süden. Der Sarka holpert über die holprigen Straßen, und die Stille im Wagen ist bedrückend. Plötzlich ein lauter Knall – der Wagen trifft einen Stein und überschlägt sich mehrmals. Die Welt dreht sich, mein Körper wird hin- und her geschleudert, und der Schmerz ist kaum zu ertragen. Doch wie durch ein Wunder landet das Auto wieder auf seinen vier Rädern. Chuck und Jane scheinen unbeeindruckt. Der Motor startet erneut, und die Fahrt geht weiter, als wäre nichts geschehen.


    Die Sonne beginnt bereits zu sinken, als wir endlich Gorka erreichen. Die Kannibalen von Gorka... das hätte ich mir denken können.

    Der Anblick der verfallenen Häuser und das Gefühl von Tod und Verfall lassen mir einen Schauer über den Rücken laufen. Die Kannibalen von Gorka... Ist das etwa wahr? Stecken sie hinter all dem? Meine Gedanken rasen, während Chuck mich aus dem Auto zerrt und Jane beginnt, die Tore zu öffnen.


    Ich wittere meine Chance. Während Chuck Jane bei einem Code hilft, schleiche ich mich leise davon, versuche in den Schatten der Gebäude zu verschwinden. Doch es dauert nicht lange, bis Chuck mich einholt. „Wo willst du hin?“, knurrt er, bevor ich einen harten Schlag in den Rücken spüre. Er treibt mich zurück zum Auto, jeder Schlag seines Gewehrkolbens brennt in meinem Rücken. Als wir ankommen, sinke ich erschöpft vor dem Auto auf die Knie.


    Dann passiert es. Ohne Vorwarnung zieht Chuck seine Waffe und schießt. Ein brennender Schmerz durchzuckt mein Bein. Ich schreie auf, unfähig, den Schock zu verbergen. Verdammt! Er hat auf mich geschossen! Zum Glück scheint es nur ein Streifschuss zu sein, doch meine Hose ist ruiniert. Ich humple zur Polizeistation, getrieben von Chucks bedrohlicher Präsenz. Mit einem letzten Aufbäumen versuche ich aus meinen Fesseln zu entkommen, während Chuck die Zombies abwehrt, die durch seinen Schuss angelockt worden sind. Doch auch hier ist er gleich wieder zur Stelle, um meine Versuche mit einem Schlag zu unterbinden. Schließlich werde ich in die Polizeistation geführt und dort in eine Gefängniszelle.


    Die Zelle ist wie erwartet karg. Eine Pritsche, eine Kiste darunter, das unvermeidliche gelbe Fass und ein vergittertes Fenster. Chuck schließt mich ein, dreht sich dann noch einmal um und schlägt nach mir. „Träum was Schönes!“, spottet er, bevor er die Tür hinter sich zuschlägt. Wird das jetzt zu einer Art Signature Move bei ihm? Jane wirft mir einen letzten Blick zu, bevor sie und Chuck die Polizeistation verlassen.


    Ich versuche dem Schmerz standzuhalten und schaffe es nur mit Mühe, das Bewusstsein nicht zu verlieren. Draußen stöhnen die Zombies vor dem Gitterfenster. Chuck legt das schwere Vorhängeschloss um das Gitter und schließt anschließend die Zellentür von außen ab. „Hey! Was ist mit dem Schlüssel…?“, protestiere ich, „Für die Handschellen? Ich bin immer noch gefesselt!“ „Kannst du behalten. Als Andenken!“, lacht er hämisch und ich höre, wie er und seine Begleitung die Polizeistation verlassen. In Gedanken füge ich entschlossen hinzu: „Nein, die sind für DICH reserveriert…!“. Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.


    Schließlich begebe ich mich zum Fenster. Draußen steht ein rotes Gunter Wrack und der Sarka sowie jede Menge geifernde Zombies. Durch das Fenster sehe ich, wie Chuck und seine Begleitung die Zombies niederschießen. Chuck grinst mich am Fenster süffisant an, hebt seinen Arm zum Gruß und wirft mir anschließend ein Messer gegen die Gitterstäbe. „Hier fang!“, grinst er breit. Sehr witzig… Natürlich gelingt mir dies nicht mit auf dem Rücken gefesselten Händen und das Messer fällt klirrend vor dem Fenster zu Boden. Anschließend steigen beide lachend in das Auto und fahren laut hupend davon.


    Tja und dann bin ich wieder allein. Die Stille in der Zelle ist fast greifbar, unterbrochen nur vom gelegentlichen Stöhnen der Zombies, die sich vor dem vergitterten Fenster bewegen. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch, der sich hinter den Gitterstäben befindet, steht eine Kiste. Sie scheint absichtlich außerhalb meiner Reichweite platziert worden zu sein – eine weitere kleine Grausamkeit meiner Entführer.


    Doch ich gebe nicht auf. In meiner Tasche habe ich noch einen der rostigen Nägel, die ich vor Tagen heimlich an mich genommen habe. Vorsichtig taste ich nach dem kleinen Metallstück und beginne die mühselige Arbeit, die Handschellen an meinen Handgelenken zu lösen. Der Nagel rutscht immer wieder ab, und meine Finger schmerzen vor Anstrengung, doch nach einer schier endlosen Geduldsprobe höre ich endlich das erlösende Klicken. Die Fesseln fallen ab, und ich reibe meine schmerzenden Handgelenke.


    Ich wende mich dem gelben Fass zu. „Hallo, alter Freund…“, flüstere ich. Nach den Erlebnissen in Severograd bin ich ganz froh, wieder eines dieser Fässer zu sehen, denn das bedeutet wenigstens Wasser. Als ich den Deckel öffne, entdecke ich wieder Blutentnahmesets. Scheinbar sind sie doch noch nicht mit mir fertig und das mit den Kannibalen war nur eine Behauptung, um mir Angst zu machen. Außerdem finde ich eine Dose Pfirsiche, Spaghetti und – wie könnte es anders sein – Hundefutter. Mein Magen knurrt laut, und ich beschließe, die Pfirsiche zu öffnen. Der süße Saft und die weichen Fruchtstücke sind ein kleiner Trost inmitten dieses Elends. Ich esse langsam, genieße jeden Bissen, denn ich weiß, dass ich mir alles wieder werde einteilen müssen.


    Erst als mein Magen nicht mehr so schmerzt, lasse ich mich erschöpft auf das Bett sinken. Die Matratze ist dünn, und jede Feder darunter drückt sich unangenehm in meinen Körper. Doch nach der körperlichen Anstrengung heute fühlt es sich das Liegen fast wie ein Luxus an.


    Die Dunkelheit senkt sich über Gorka, und das Knurren der Zombies wird zu einem monotonen Hintergrundgeräusch. Ich wende meinen Blick zum Fenster und sehe sie – die Sterne. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten erblicke ich einen klaren Himmel. Ihr Leuchten ist schwach, aber beständig, und für einen Moment fühle ich eine seltsame Art von Frieden. Ich bin so bewegt, dass meine Augen sich mit Tränen füllen. Vielleicht sehen meine Freunde auch gerade jetzt auf diesen Sternenhimmel? Er ist wie eine Erinnerung daran, dass da draußen noch eine Welt existiert – eine Welt, in die ich irgendwann zurückkehren werde.

    Hunger, Severograd


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    "I'm letting go of my shame, that unbearable weight

    I'm learning to survive

    I'm letting go of the blame from my selfish mistakes

    I'm learning to survive."


    Die Stunden auf dem Dachboden schleichen dahin wie ein zäher Albtraum. Es ist still, bis auf das gelegentliche Knarren des Holzbodens und das Pfeifen des Windes, der durch die Dachschindeln zieht. Mein Magen knurrt laut, und ich halte instinktiv die Arme darum, als könnte ich das Geräusch damit unterdrücken.


    Was mir erst jetzt auffällt: Kein Fass. Nein wirklich. Es steht dieses Mal kein gelbes Fass vor dem Tor, lediglich eine Kiste mit Blutentnahmesets. Kein gelbes Fass, keine Vorräte, so karg sie sonst auch waren.


    Der Hunger gräbt sich tief in meinen Körper, und die letzte Mahlzeit scheint eine Ewigkeit her. Meine Gedanken kreisen wieder um die Frage: Wollen sie mich hier oben einfach verhungern lassen?


    Ich versuche, mich abzulenken, suche verzweifelt nach etwas Nützlichem in diesem trostlosen Raum. Doch alles, was ich finde, ist Staub und ein paar lose Bretter, die keinen Zweck erfüllen. So vergeht die Zeit.


    Die Dunkelheit legt sich wie ein schwerer Vorhang über die Hütte, und die Temperaturen fallen. Mein Magen schmerzt so sehr und jeder Atemzug ist schwerer als der letzte. Endlich höre ich Schritte. Schwere, vertraute Schritte, die knarrend über die Treppe kommen. Chuck.


    Das Tor unten öffnet sich mit einem lauten Knarren, und Chucks bullige Silhouette kommt die Treppe nach oben. Sie baut sich vor dem Gittertor auf, in einer Hand einen Sack mit Vorräten, in der anderen die unbarmherzige Waffe. Er legt zwei Konserven vor dem Tor auf den Boden, sein Gesicht ein Zerrbild aus Spott und Gleichgültigkeit. „Guten Appetit“, sagt er und dreht sich schon zum Gehen.


    Doch etwas fehlt. Mein Blick wandert zu den Dosen. Es ist sofort klar: Kein Dosenöffner.


    „Kein Dosenöffner?“ frage ich schwach, meine Stimme zittert vor Hunger. „Wie soll ich die öffnen?“

    „Find’s raus“, sagt Chuck knapp, bevor er sich umdreht. Dann fügt er hinzu: „Sei froh, dass du überhaupt was bekommst.“ Das hat gesessen. Für einen Moment glaube ich wirklich, er würde nun einfach gehen. Doch dann wendet er sich um, zieht einen kleinen Dosenöffner aus der Tasche und öffnet mir damit die Dosen. Schließlich reicht er sie mir und holt noch weitere Konserven und getrockneten Kürbis aus seinem Vorratsbeutel.


    Nach getaner Arbeit entfernt er sich wortlos vom Gittertor. Ohne zu zögern, esse ich. Der Inhalt ist kalt, fast geschmacklos, aber ich fühle, wie die Spaghetti meinem Körper neue Kraft geben. Mein Magen beruhigt sich langsam, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich noch viel mehr bräuchte, um die Erschöpfung zu vertreiben. Dennoch esse ich langsam und nicht alles auf einmal. Ich muss mir meine Rationen besser einteilen.


    Mit leeren Dosen und schmerzenden Gliedern lehne ich mich gegen die unnachgiebige Wand. Die Schmerzen, die Ohnmacht und die Dunkelheit drohen mich zu überwältigen. Doch ich habe überlebt. Zumindest diesen Tag. Die Wut auf Chuck brennt in mir wie ein schwaches Feuer – vielleicht genau das, was ich brauche, um weiterzumachen.

    Von Svetlojarks nach Severograd

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    "Here I am wide awake, no I'm not dead yet

    And I'm not as confused as I know I was back then."


    Ich erwache vom Brüllen eines Motors draußen auf der Straße. Es könnte wieder der ADA sein, oder vielleicht ein LKW. Mein erster Gedanke ist Hoffnung – jemand könnte hier sein. Jemand könnte mich finden. Doch die Realität holt mich schnell ein. Niemand wird einfach so über diesen Ort stolpern. Nicht ohne einen Hinweis. Nicht ohne ein Zeichen von mir.


    Das gelbe Fass steht wie immer vor meinem Gitter, eine makabre Routine. Darin finde ich wieder Blutentnahmesets aber auch etwas Dosenfleisch und eine Flasche Wasser. Es ist besser als nichts, also esse ich es hastig, bevor ich mich wieder auf das Bett setze. Die Stille in diesem Raum ist fast beklemmend, nur gelegentlich wird sie vom Knarzen des Metalls über mir durchbrochen. Vielleicht ist da jemand im Obergeschoss, doch ich wage es nicht, laut zu rufen. Nicht nach gestern. Obwohl… war das überhaupt gestern? Jedenfalls habe ich nicht vor, nochmals Bekanntschaft mit Chucks Gewehrkolben zu machen.


    Ich höre Schritte. Sie sind weit entfernt, doch meine Sinne sind geschärft. Vielleicht nur einer der Entführer, der seine Runden dreht. Doch was, wenn es jemand Fremdes ist? Ich gehe zum Gitter, spähe hinaus und lausche. Der Gedanke, dass es einer von uns sein könnte – ein Samariter, ein Freund – lässt meine Hoffnung kurz aufflammen. Doch dann erinnere ich mich an den Schmerz der gestrigen Schläge. Chuck wird keine weiteren Versuche tolerieren. Ich kann es mir nicht leisten, entdeckt zu werden, bevor ich sicher bin, dass die Person draußen kein Feind ist.


    ~~~


    Die schwere Metalltür zum Verlies öffnet sich mit einem kreischenden Quietschen und ich höre Chucks schweren Stiefel auf den kalten Boden trampeln, noch bevor ich ihn sehe. Ohne ein Wort baut er sich vor dem Gittertor auf und deutet wieder mit der Waffe auf mich. „Aufstehen. Mit dem Rücken an die Wand“, befiehlt er. Seine Stimme ist kalt, gleichgültig, wie immer.


    Wieder folge ich mechanisch seinen Anweisungen, zu ausgelaugt, um Widerstand zu leisten. Meine Hände zittern, als er die Handschellen anlegt. Das kalte Metall schneidet. Leider ein vertrautes Gefühl und ich hasse es. „Los jetzt“, knurrt Chuck und stößt mich grob in Richtung der Ausgangstür. Wieder geht es durch das Treppenhaus, aber dieses Mal verzichtet er zum Glück auf seine markanten Schläge.


    Im ADA ist die Stille bedrückend. Chuck sitzt hinter dem Steuer, seine Komplizin Jane auf dem Beifahrersitz. Ihr Blick ist ebenso kalt wie seiner, aber sie wirkt angespannter. Sie sprechen kaum miteinander, nur kurze, knappe Worte über den Zustand des Fahrzeugs und das Ziel. Ich sitze auf der Rückbank, meine Hände hinter meinem Rücken gefesselt. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es nun nach Severograd. Warum ausgerechnet dorthin? Ich kann diesen Typen wirklich nicht folgen. Jedenfalls scheint die Fahrt sich ewig hinzuziehen. Die Schläge, die ich in den letzten Tagen ertragen musste, haben meinen Körper erschöpft. Der Mangel an erholsamen Schlaf und Essen zehrt an mir. Trotzdem halte ich mich an einem Gedanken fest: Irgendwann muss es enden. Irgendwann kommt die Gelegenheit, zu entkommen.


    Als wir Severograd erreichen, fährt Chuck nicht ins Zentrum der Stadt, sondern lenkt den ADA auf eine holprige Nebenstraße. Sie führt uns zu einer Hütte am Ortsrand. Sie wirkt verlassen, doch als wir ankommen, steigen Chuck und Jane aus, um die schweren Tore, die das Haus sichern, zu öffnen.


    Das ist meine Chance. Kaum ist Chuck ein paar Schritte entfernt, winde ich mich aus dem Wagen und renne los. Meine Beine fühlen sich wie Blei an, jeder Schritt ist mühsam, doch der Adrenalinschub treibt mich voran. Der Wald scheint endlos, und die Bäume bieten kaum Schutz. Ich höre Chucks wütende Anweisungen und Janes suchendes Brüllen hinter mir.


    Doch plötzlich gibt mein Körper nach. Der Hunger, der Schmerz und die Müdigkeit holen mich ein. Schließlich lasse ich mich keuchend in eine große Tanne fallen und presse mich eng an den Stamm. Meine Atemzüge sind laut, zu laut, aber ich kann sie nicht kontrollieren. Dann höre ich Schritte.


    Vor mir steht Jane. Ich sehe die Waffe in ihrer Hand, die direkt auf mich gerichtet ist. Widerstand ist zwecklos. Mit einem knappen „Aufstehen!“ zwingt sie mich, mich wieder in Bewegung zu setzen. Mehr braucht es nicht.


    ~~~


    Zurück an der Hütte wartet Chuck bereits, seine Miene dunkel vor Zorn. Ohne ein weiteres Wort führen sie mich ins Haus. Die Atmosphäre ist bedrückend, die Räume sind eng, staubig und voller verschlissener alter Möbel. Sie zerren mich die knarrende Treppe hinauf. Meine Beine wanken, doch Janes Waffe bleibt auf mich gerichtet, und Chucks drohende Präsenz lässt mir keine Wahl.


    Oben angekommen, stoßen sie mich in einen Verschlag auf dem Dachboden. „Ab in die Zelle mit dir!“, sagt Chuck knapp. Ich setze mich in Bewegung. Hinter mir verschließt er wieder das Gittertor.

    Anschließend beugt er sich durch das Gitter zu mir und nimmt mir die Handschellen ab. Doch anstatt sofort zu gehen, zückt er ein Wärmekissen und wirft es mir mit einem spöttischen Grinsen zu. „Damit du nicht frierst“, sagt er süffisant. Ich bin so verdutzt, dass ich mir nur ein kleines „Danke“ abringen kann. Für einen kurzen Moment flackert Hoffnung auf, doch dann schlägt seine Laune um. Sein Blick verändert sich. „Träum was Schönes“, spottet er, seine Stimme trieft nun vor Sarkasmus. Unerwartet holt er aus und schlägt erneut mit dem Gewehrkolben nach mir. Der Schlag trifft mich hart und unvorbereitet und ich taumele gegen die Wand.


    Dann greift er nach etwas an seinem Gürtel oder seiner Weste. Eine Rauchgranate! Ich sehe, wie er den Stift zieht, und kurz darauf erfüllt pinker Rauch den Raum. Ich huste, versuche nach Luft zu ringen, während der Raum in greller Farbe versinkt. Meine Augen beginnen zu tränen und unter Keuchen höre ich, wie die Schritte der beiden sich entfernen. Schließlich wird die Tür zum Haus wieder abgeschlossen. Verdammte Monster… War das die Strafe für meinen Fluchtversuch? Selbst wenn! Ich würde es jederzeit wieder versuchen.


    Der Rauch zieht langsam ab, doch die stickige Luft bleibt. Meine Schulter schmerzt vom Schlag, und meine Hände zittern, während ich mich gegen die kühle Wand lehne. Der Raum ist eng und bedrückend, kaum größer als ein Schrank. Der Gedanke an eine Flucht scheint inzwischen weiter entfernt als je zuvor. Wem mache ich hier eigentlich etwas vor?

    Auf nach Svetlojarsk

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    "I can feel them watching me while I'm learning to survive

    Staring at my broken will that I'm too tired to hide

    So many demons I can't escape, burning my bridges to light the way

    I can feel them watching me but I'll make it out alive

    I'm learning to survive."


    Der ADA rollt holprig über die Straßen und ich spüre jeden Stein, jede Unebenheit, die das Fahrzeug erzittern lässt. Das Brummen des Motors und das gelegentliche Fluchen meiner Entführer durchbrechen die drückende Stille. Meine Hände sind noch immer hinter meinem Rücken gefesselt, die Kälte des Metalls schneidet in meine Haut. Als ich aus dem Fenster sehe, erkenne ich Svetlojarsk wieder. Der Nebel hängt tief, die grauen Gebäude wirken verlassen und bedrückend. Es scheint, als würde dieser Ort seit Jahren nur noch vor sich hin verfallen. Trotzdem gibt es auch hier Hoffnung! Die Chuckle Chicks haben bei der Krankenstation ein provisorisches Bambi-Auffanglager errichtet. Vielleicht bemerkt mich ja jetzt endlich jemand? Ob meine Entführer absichtlich Stellen auswählen, die in der Nähe unserer Camps sind, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren? Durchtrieben und leichtsinnig. Ich hoffe, dass ihnen dieser Leichtsinn eines Tages das Genick bricht!


    In der Nähe der Kirche hält der ADA an. „Aussteigen und rein!“ Chucks Stimme ist schneidend, und ich gehorche, meine Bewegungen steif von der Enge der Handschellen und dem ständigen Sitzen. Seine Waffe bleibt auf mich gerichtet, als er mich in ein leerstehendes Gebäude führt. Ich weiß, was kommt. Ein weiterer Käfig, ein weiterer Raum, den ich mit meiner Verzweiflung füllen werde. Theatralisch.


    Die neue Zelle ist ähnlich wie die anderen, doch irgendwie scheint sie noch trostloser. Oder kommt es mir nur so vor? Der Raum ist klein und stickig. Eine Wellblechwand blockiert das einzige Fenster und lässt kaum Licht herein. Das gelbe Fass steht unheilvoll in der Ecke. Vor der Tür steht ein schweres Metalltor, das mich vom Rest des Gebäudes abschirmt. Das Gitter vor meinem Raum trennt mich erneut von der Welt, die ich nur durch Schlitze und Schatten wahrnehmen kann. Dieses Mal gibt es wieder ein Bett.


    „Hier bleibst du, bis wir dich wieder brauchen!“, befiehlt Chuck, bevor er mich mit einem harten Stoß in die Zelle schiebt. Die Handschellen werden mir abgenommen, dann knicken meine Knie ein, und ich kaure auf dem kalten, staubigen Boden. Es folgt das gleiche Ritual: Tor zu, Schloss dran. Schritte entfernen sich, dann Stille.


    Mein Körper schmerzt von der Tortur. Ich setze mich auf das Bett, schlinge meine Arme um die Knie und versuche etwas Kraft zu tanken. Irgendwann schaffe ich es, kurzzeitig einzunicken.

    Berezino, ein oder zwei Tage nach dem Transfer

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    "And it feels like a prison I'm living in

    Did I earn all the pain in the consequence?"



    Die kleine Zelle in Berezino bietet mehr Anschein von Normalität, als ich erwartet hatte – und dennoch keinen echten Trost. Ein altes, fleckiges Sofa steht in einer Ecke, der Stoff ist bereits stark von der Zeit gezeichnet. Wie lange ich nun hier genau bin, ist mir auch ein Rätsel. Vielleicht ein oder zwei Tage? Vor dem Fenster wurde eine Wellblechwand angebracht, die das Tageslicht blockiert und die Zelle in ewige Dämmerung taucht, daher ist es naturgemäß schwer eine Aussage zu treffen. Meinen Wecker haben sie mir auch abgenommen und das schmerzt momentan am meisten. Nur ein kleiner Ofen steht in einer Ecke, jedoch scheinbar nutzlos, denn weder Feuerholz noch Zündmittel sind vorhanden. Und natürlich ist auch mein ständiger Begleiter wieder da: das gelbe Fass. Es steht vor dem Gitter, das den Raum vom Rest der Wohnung trennt. Vor der Eingangstür türmt sich ein schweres Wellblechtor auf, ein unüberwindbares Hindernis.


    Dann höre ich es. Das vertraute, tiefe Brummen eines ADA-Motors. Mein Herz rast. Hoffnung keimt auf – vielleicht ist es jemand, der mich findet! Ich schnappe nach Luft und trommle verzweifelt gegen die Wände: „Hier bin ich! HALLO!“ Doch meine Hilferufe erreichen die falschen Ohren.


    „SCHWEIG!“ Chucks donnernde Stimme durchbricht die Stille. Mein Herz sackt in die Tiefe. „Scheiße…“, entfährt es mir, als ich in eine Ecke zurückweiche. Die Angst ist überwältigend. Das wird nicht gut ausgehen.

    „Hände hoch, Kopf an die Wand!“ Chucks Befehl hallt durch den Raum, seine schneidende Stimme duldet keinen Widerspruch. Zitternd folge ich seiner Anweisung. Ich höre das metallische Klicken des Zahlenschlosses, das mir verrät, dass die Entführer jeden Moment eintreten werden. Trotzdem ziehen sich die Minuten endlos, bis Chuck schließlich vor der Gittertür steht. „Umdrehen! Ganz langsam zurück!“ Seine Waffe ist auf mich gerichtet. Mein Körper gehorcht wieder einmal, als wäre er losgelöst von meinem Verstand. „Näher kommen, umdrehen!“ Seine Stimme ist kalt, unnachgiebig. Ich spüre seinen Blick auf mir, während ich mich erneut drehe und warte, bis er mir die Handschellen anlegt. Das kalte Metall schließt sich um meine Handgelenke, und die allzu vertraute Ohnmacht überrollt mich erneut.


    Das Tor wird geöffnet, und Chuck führt mich aus der Zelle. Mit der Waffe im Anschlag treibt er mich vor sich her, die Stufen des Treppenhauses hinunter. Wenn ich nicht schnell genug bin, spüre ich den harten Stoß des Kolbens seiner Waffe in meinem Rücken. Vermultich die Quittung für den Versuch, nach Hilfe zu rufen. Jeder Schlag lässt meine Schulter pochend zurück, doch ich halte den Schmerz zurück, bemüht, nicht zu stolpern.


    Unten angekommen wartet seine Komplizin bereits. Ich weiß nicht, warum, aber ich werde sie „Jane“ nennen. Sie sichert das Gebäude, ihre Haltung angespannt und wachsam. Dann sehe ich das Fluchtauto, einen blauen ADA. Die Zeit wird knapp. Ich muss handeln, bevor es zu spät ist. Ich lasse alle Vorsicht fahren, nutze den Moment und rufe aus voller Kehle: „HILFE! HIER BIN ICH!“ Bitte lass meine Stimme bis am Camp zu hören sein… jemand muss das doch mitbekommen, verdammt!


    Doch bevor mein Ruf verstummt, als beide Entführer sofort simultan nach mir schlagen. Ich stürze und falle. Meine Jacke ist komplett ruiniert, als ich im Schmutz der Straße lande. „RUHE!“ brüllt Chuck, und ich spüre den Schmerz, der durch meinen Körper schießt. Keuchend liege ich auf dem Boden. „Ihr Monster“, bringe ich hervor, doch meine Worte haben keine Wirkung. Schließlich werde ich auf die Füße gezerrt und gezwungen, in den ADA zu steigen. Widerwillig gehorche ich, ich habe keine Kraft mehr für den Kampf übrig.


    Wieder setze sich der Motor in Bewegung, und die Fahrt ins Ungewisse beginnt. Ich klammere mich an den Gedanken, dass die Schreie vielleicht doch jemanden erreicht haben könnten. Vielleicht bin ich nicht ganz verloren. Aber bis dahin bleibt nur die Dunkelheit, die mich umgibt, und die Ungewissheit, wo die Reise diesmal enden wird.

    Von Tri Dolini über Solnichniy bis nach Berezino


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    "Always trusted too much, it was all I had

    I was blind to the darkness in everyone I know."


    Ich erwache durch das eindringliche Rufen von Hirschen, deren Klagen wie ein ferner, melancholischer Ruf nach Freiheit klingen. Das habe ich schön formuliert, oder? Tatsache ist, dass mir das Röhren nach einiger Zeit tierisch auf die Nerven geht. Okay, es ist endlich mal ein Reiz von außerhalb, aber irgendwann ist auch gut damit… Jedenfalls weiß ich definitiv, dass ich mich nahe eines Waldes befinden muss und die Wände der Hütte, in der ich mich noch immer befinde, wirken bedrückender als je zuvor. Zwar gibt es hier einen Kamin und ich überlege, ob ich nicht irgendwie ein Feuer entfachen könnte, um jemanden mit dem Rauch auf mich aufmerksam zu machen, aber leider finde ich nichts zum Anzünden. Papier und Holz könnte ich mir beschaffen, aber es scheitert an Streichhölzern oder einem Feuerzeug.


    Doch meine Zeit hier ist ohnehin wieder nur begrenzt, wie sich bald herausstellt. Um die Mittagszeit werde ich erneut ... "abtransportiert".


    Dieses Mal führt mich mein Weg in einen kleinen Verschlag in Solnichniy. Die Umgebung ist noch unbarmherziger als alles, was ich bisher erlebt habe. Keine Annehmlichkeiten, kein Bett, nicht einmal die dürftige Wärme eines provisorischen Schlafplatzes. Nur eine kalte, kahle Mauer und ein schmaler Lüftungsschacht, durch den gelegentlich ein Hauch frischer Luft und etwas Licht von außen hereinströmt. Es fühlt sich weniger wie eine Zelle und mehr wie ein Lagerraum an, in dem ich nur beiläufig deponiert wurde. Dennoch ist es wieder da – das gelbe Fass, mein stummer Begleiter, der sich wie ein drohender Schatten an meine Fersen heftet. Ob sie das Ding immer mitschleppen oder sich einen Vorrat angelegt haben? Ich frage mich wieder einmal, wie viel Aufwand diese Menschen betreiben müssen. Wie viele Verstecke haben sie gebaut? Und warum?


    Auch wenn die Fragen immer wiederkehren, hat sich doch etwas hat sich verändert: Meine Entführer wirken angespannt. Die flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Zeichen sind da – ein nervöses Zucken, angespannte Stimmen, kurze Befehle. Sie wissen wohl, dass man ihnen auf den Fersen ist.


    Draußen höre ich geschäftiges Treiben. Stimmen hallen durch die Luft, begleitet vom Poltern schwerer Kisten. Ich spüre ihre Rastlosigkeit, höre Flüche und Rufe, als die Entführer ihre Arbeit in Eile verrichten und ich schnappe ein paar Mal das Wort „Berezino“ auf. Zeit, aktiv zu werden! Ich nutze die Gelegenheit und hinterlasse einen weiteren Hinweis in der Kiste in meinem Verschlag: Eine Holunderbeere. Ein Geniestreich! Okay… nicht wirklich. Beeren… Berezino. Ich weiß, der Witz ist flach. Ich weiß, dass nicht sicher ist, ob Berezino wirklich unser Ziel ist. Aber ich weiß, dass meine Freunde genau diesen Hinweis verstehen werden. Wie oft haben wir Berezino liebevoll „Bere“ genannt. Das muss einfach hinhauen…

    Wie gut, dass ich auf dem Weg hierher heimlich eine eingesteckt habe.


    Noch bevor ich mir weitere Gedanken über weitere Hinweise machen kann, werde ich wieder aus meinem Verschlag geholt. Das gleiche Ritual, wie immer. Die gleichen Anweisungen, die gleiche Ohnmacht.


    Unser Ziel scheint in der Tat Berezino zu sein. Ich werde in ein leerstehendes Gebäude gebracht, dessen Wände nur bedingt mehr Trost spenden als die, die ich zuvor in Solnichniy zurückließ. Dennoch bin ich froh, in einem Wohnraum zu sein und nicht mehr in dem kalten unwirtlichen Lagerraum. Die neue Zelle unterscheidet sich in Sachen Größe jedoch kaum von den anderen. Ein weiteres Gefängnis, ein weiterer Punkt auf einer scheinbar endlosen Reise.


    Als ich mich allein glaube, wage ich es, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Ich höre das kehlige Grollen aggressiver Zombies und hoffe, dass vielleicht jemand in der Nähe ist, um darauf aufmerksam zu werden. „Hallo? Ist da jemand?“ Meine Stimme hallt durch die Wände, verliert sich in der Leere. Doch wie schon so oft bleibt mein Ruf nach Hilfe unbeantwortet.


    Ich lehne mich gegen die kühlen Mauern, meine Gedanken kreisen rastlos. Der ständige Wechsel, die Ruhelosigkeit meiner Entführer und bei Nacht die eisige Dunkelheit jedes neuen Verstecks – alles deutet darauf hin, dass sich das Netz um sie enger zieht. Aber wie lange kann ich das noch durchhalten?


    Wieder falle ich in die Routine des Wartens. Warten auf eine neue Verlegung. Warten darauf, dass meine Botschaften ihre Empfänger erreichen. Warten auf eine Chance.

    Noch einen Tag später oder so, noch immer in Elektrozavodsk


    20241122215513_1.jpg


    "This is how it feels when you take your life back
    This is how it feels when you finally fight back
    When life pushes me I push harder
    What doesn't kill me makes me stronger."


    Ich werde wieder von Zombies geweckt. Ihr unheimliches Gekreische durchdringt meine Zelle und zerrt mich aus dem Schlaf. Dieses Mal weiß ich, dass die Zeit knapp ist. Die Entführer könnten jederzeit zurückkommen. Ich muss versuchen, Kontakt aufzunehmen – jetzt oder nie.


    „Hallo? Ist da draußen jemand?“ „Hallo?“, kommt die fragende Antwort. Meine Hoffnung wächst. „Hi! Du, ich bin hier drin eingesperrt. Kennst du die Samariter hier? Kennst du die Gruppe, die sich Samariter nennt?“ Aber mein Gegenüber sagt nichts dazu. „So moin, hörst du mich überhaupt?“, vernehme ich wieder seine Stimme. Ich bestätige. Offenbar ist es nicht so leicht, sich durch eine dicke Wand verständlich zu machen. „Ja, ich höre dich! Ganz schnell, ganz schnell. Sei vorsichtig! Nicht, dass du gleich abgeschossen wirst.“ Dann setze ich nach: „Kennst du die Gruppe, die sich Samariter nennt?“ Zu meiner großen Überraschung hat mein Gegenüber noch nie etwas von ihnen gehört. Ich muss also improvisieren und stammele: „Okay, ähm dann folgst du den Gleisen am besten nach Westen. Dann wirst du ein Lager finden, das zu den Samaritern gehört. Sag ihnen, dass Herz-aus-Gold hier steckt. Sag ihnen, dass sie sie finden sollen, okay?“ Für ein „Bitte“ bleibt keine Zeit. Ich muss jede Sekunde damit rechnen, dass die Entführer wieder auftauchen. Ich warne ihn nochmals, dass er vorsichtig sein soll. Ich entschuldige mich für die Eile und betone, dass er bitte das Lager in Prigorodki aufsuchen solle. Zwischen Chernogorsk und Elektrozavodsk.


    „Alles klar, okay! Ja ich mach mich gleich auf den Weg.“, sagt er. Ich frage ihn noch nach seinem Namen. „Aki“, antwortet er. „Aki“, wiederhole ich. Nicht ganz wie unser Acki, aber es klingt ähnlich. Nun habe ich doch noch Zeit, mich zu bedanken und ich wünsche ihm viel Erfolg. „Danke, Aki. Bitte sei vorsichtig. Es ist zwischen Chernogorsk und Elektrozavodsk, in Prigorodki. Dort findest du das Lager.“


    Zum Glück folgen dieses Mal keine Schüsse und ich schicke meine Stoßgebete auf die Reise, damit Aki wohlbehalten das Camp erreicht und dort auch einen der anderen Samariter antrifft.


    Doch ich habe keine weitere Gelegenheit, über sein Schicksal nachzudenken. Die Entführer könnten jederzeit auftauchen. Ich muss vorsorgen. Schnell verstecke ich zwei Zahlenschlösser und einige Nägel in meiner Zelle. Mit den Nägeln forme ich eine Botschaft im Fass: „CL=XY.“ Ich hoffe, dass jemand meiner Freunde diesen Code versteht. Ich habe keine Zahlen mehr im Schloss übrig, um Koordinaten vollständig anzugeben, daher behelfe ich mir mit den Nägeln. Ich wette, die nächste Station ist die einsame Jagdhütte in Tri Dolini, von der zwei der Entführer kürzlich gesprochen haben. Hoffentlich liege ich richtig und mein Code wird verstanden und nicht von den Entführern vorzeitig entdeckt. Aber es ist das Beste, was ich tun kann.


    Es dauert nicht lange, bis die Tür aufgeht und einer meiner Entführer eintritt. Ich habe ihn schon einmal gesehen – grüne Sanitäter Kleidung, Cowboyhut, Sonnenbrille. Sein Auftreten ist barsch, seine Stimme autoritär. „Mit dem Rücken ans Gitter! Arme hinter den Rücken!“ Die Routine ist bekannt. Ich gehorche, und wieder werden mir die Hände gefesselt.


    Draußen ist es dunkel. Wir verlassen die Zelle, und ich werde durch die Straßen von Elektrozavodsk geführt. Diesmal endet unser Weg am Pier. Meine Rufe verhallen wie immer ungehört. Ein Boot wartet. Ohne eine Wahl zu haben, steige ich ein. Mein Entführer schiebt das Boot an und fährt los, hinein in die Dunkelheit.


    Wir machen kurz Halt auf einer kleinen Insel, bevor es weitergeht. Immer weiter. Schließlich legen wir mit einem Auto das letzte Stück der Strecke zurück. Ich vermute, wir sind in Three Valleys, kurz vor Solnichniy. Die Straße führt uns tief in den Wald, zu einer einsamen Hütte – mein neues Gefängnis. Ich hatte es geahnt.


    Wieder die gleiche Prozedur: Tor auf, Gefangene rein, Tor zu. Schloss dran. Fesseln ab. Der Entführer verlässt das Versteck. Dann Stille. Nur das gelegentliche Röhren eines Hirsches ist zu hören. Ich bin definitiv in der Nähe eines Waldes. Wie lange soll das noch so weitergehen?


    Doch tief in mir bin ich überzeugt: Meine Botschaft wird die Samariter und unsere Freunde erreichen. Sie muss einfach! Ich ahne nicht, wie knapp meine Retter mich verpasst haben.

    Vermutlich wieder einen Tag später, noch immer irgendwo in Elektrozavodsk


    20241110231735_1.jpg


    "The person inside you never see

    Tossed and torn, but I won't be ignored

    There's so much more to me."



    Wie lange bin ich schon hier?

    Ein oder zwei Tage? Es gelingt mir einfach nicht mehr, den Überblick zu behalten. Die Zeit verschwimmt in einem endlosen Rhythmus aus Warten und Hoffen. Doch ich bin mir sicher: Das hier muss Elektrozavodsk sein. Immer wieder höre ich Motorengeräusche, die durch die Stille hallen. Es sind diese kleinen Details, die mich glauben lassen, dass ich ganz nah an unserer Heimat bin – und doch so unerreichbar weit entfernt.


    Meine Entführer sehe ich nur selten. Sie bringen schweigsam Essen, schauen mich nicht an, sagen kein Wort. Es wirkt, als hätten sie Größeres vor. Anhand ihrer Ausrüstung und ihrer knappen, gehetzten Bewegungen vermute ich, dass sie irgendwo eine neue Basis aufbauen. Vielleicht liegt ihre Ablenkung daran, dass sie denken, ich bin keine Gefahr. Vielleicht unterschätzen sie mich.


    Heute habe ich eine Gelegenheit genutzt. Einer von ihnen – ich weiß nicht einmal seinen Namen – ließ einen Rucksack auf einem Stuhl vor meinem Gitter liegen, als er kurz den Raum verließ. In einer Mischung aus Instinkt und Verzweiflung griff ich zu. Zwei Kombinationsschlösser waren darin. Schnell schnappte ich sie mir und versteckte sie in meiner Zelle. Vielleicht kann ich sie nutzen, um eine Botschaft zu hinterlassen. Vielleicht wird sie jemand finden.


    Trinity habe ich seit Tagen nicht gesehen. Ich bin mir sicher, dass Chuck sie absichtlich von mir fernhält. Er weiß genau, dass sie ein Sicherheitsrisiko ist. Ein Jammer – ich glaube, sie wäre meine beste Chance gewesen, hier herauszukommen. Aber ich verstehe immer noch nicht, welche Rolle sie in all dem spielt.


    Immer wenn ich ein Auto oder andere verdächtige Geräusche höre, wenn meine Entführer nicht in der Nähe sind, rufe ich laut, versuche, Kontakt mit der Außenwelt herzustellen. Es ist frustrierend. Ich bin so nah an meinem Camp, so nah an den Menschen, die ich kenne. Und doch prallt jede Hoffnung an den Wänden dieser Zelle ab. Meine Rufe verhallen unbeantwortet.


    Einmal höre ich Schüsse in der Ferne. Mein Herz schlägt schneller, meine Gedanken rasen. Doch auch diese Geräusche verstummen bald. Nichts. Keine Bewegung, keine Antwort. Die Hoffnung, dass Miri – die sich früher immer so rührend um das Camp gekümmert hat – mich hier finden könnte, flammt kurz auf. Irgendjemand muss mich doch finden. Dieses Versteck kann unmöglich so gut verborgen sein. Oder?


    Stunden vergehen. Vielleicht Tage. Die Einsamkeit und das Warten zehren an mir, aber ich klammere mich an die Vorstellung, dass jemand auf einer Loot-Tour zufällig über dieses Versteck stolpert. Mit jeder verstreichenden Stunde wird diese Hoffnung dünner, wie ein schwacher Lichtschein, der immer weiter verblasst. Und trotzdem halte ich daran fest. Was bleibt mir anderes übrig?

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    Vermutlich am nächsten Tag, irgendwo in Elektrozavodsk

    20241120082945_1.jpg

    "Silenced, compliant

    Your words were your power over me

    Rising, defiant"



    Der Abtransport erfolgt, wie ich es mittlerweile fast schon gewohnt bin – unter dem Schutz der Dunkelheit. Ich kenne die Prozedur und verhalte mich kooperativ. Es bringt nichts, Widerstand zu leisten, denn diese Phase ist eine enorme Belastung für alle: für mich, weil die Ungewissheit mich zermürbt, und für sie, weil sie ein hohes Risiko eingehen müssen. Dementsprechend ist die Spannung greifbar und ich will nur, dass es endlich vorbei ist.


    Wieder werde ich gefesselt und wieder werde ich in ein Auto verfrachtet. Die Dunkelheit verschluckt meine Umgebung, und ich kann kaum etwas erkennen. In meinem Kopf dreht sich alles um eine Frage: Hat Stimmuuung irgendwie meine Botschaft übermitteln können? Ich muss irgendwie anfangen, selbst Spuren zu hinterlassen – Hinweise, die die anderen zu mir führen könnten. Sofern jemand nach mir sucht… Nein, solche Gedanken kann ich mir nicht leisten, ich muss positiv denken. Stimmuuung hat es bestimmt geschafft, seinen Notruf abzusetzen. Da bin ich mir sicher. Die anderen wissen längst bescheid. Warum sonst sollte ich schon so früh wieder in ein neues Versteck gebracht werden? Ich sehe das als gutes Zeichen: Man ist mir auf der Spur, das spüre ich. Ich muss meinen Freunden helfen, nur wie? Noch weiß ich nicht einmal, wo es hingeht und die Entführer verhalten sich wie immer wortkarg und extrem kurz angebunden.


    Dieses Mal endet die Fahrt schnell. Ich schätze, wir sind in Elektrozavodsk. Das Gebäude, in das sie mich bringen, ähnelt von außen dem vorherigen: ein trostloser, verlassener Komplex. Auch das Innere kommt mir bekannt vor: Das Holzgitter am Eingang meiner neuen Zelle ist wieder da, eine vertraute Barriere, die mich vom Rest der Welt trennt. Sie nehmen mir die Handschellen ab und lassen mich allein zurück.


    Natürlich steht es wieder da, mein treuer „Freund“, das gelbe Fass. Die Routine ist bitter vertraut. Ich finde Spaghetti und eine Dose Schinken – ein bescheidenes Mahl, aber besser als nichts. Immerhin wird noch für mich gesorgt. Während ich esse, lasse ich meinen Blick durch die Zelle wandern. Alles ist fast identisch mit dem vorherigen Standort. Jede Wand, jedes Gitter, jedes Detail schreit nach sorgfältiger Planung. Ich kann nicht anders, als mich immer wieder zu fragen: Wer betreibt so einen enormen Aufwand? Wie viele solcher Verstecke gibt es und wo führt das alles hin?


    Ich weiß nicht, was mich hier erwartet, aber eines steht fest: Ich muss ein Stück Kontrolle zurückgewinnen. Irgendwie. Auch wenn es nur bedeutet, einen neuen Plan zu schmieden. Ich darf nicht aufgeben.


    //Dieser Eintrag leitet die Geschehnisse in Operation: Herzblut ein. Alles bis hierhin, war lediglich das "Vorgeplänkel" ;)


    Im Thema dort kann man die Arbeit der Rettungstruppen nachverfolgen.


    Unbekannter Tag nach dem unbekannten Tag – Vielleicht auch zwei tage später. Wer weiß das schon so genau?

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    „It’s hard to laugh, when you’re the joke.”


    Das Tageslicht dringt von draußen herein, als ich wieder aus einem unruhigen Schlaf erwache. Das Stöhnen der Zombies hat mich aus meinen Albträumen gerissen. Eigentlich sollte ich mich an deren Gegenwart gewöhnt haben; sie scheinen mich hier drinnen zu ignorieren. Doch heute ist etwas anders. Einer von ihnen scheint besonders aggressiv, sein Brüllen und Schreien deutet darauf hin, dass er kurz davor ist, sich auf etwas – oder jemanden – draußen zu stürzen. Sind meine Entführer zurückgekehrt? Es fällt kein Schuss, stattdessen scheint die Person draußen mit bloßen Fäusten oder mit einem Gegenstand zu kämpfen – keine Anzeigen für Chuck und seine Bande. Ihnen macht es nichts aus, draußen laut rumzuschießen. Ich beschließe, alles auf eine Karte zu setzen.


    In meiner Verzweiflung beginne ich zu rufen: „Hallo! Ist da jemand?“ Keine Antwort. Frustration überkommt mich und ich schlage gegen die harte Steinmauer meiner Zelle. Mein einziger Hoffnungsschimmer auf Rettung scheint verhallt zu sein, doch ich gebe nicht auf. Mein erneutes Rufen und Hämmern gegen das verbarrikadierte Fenster wird schließlich von einer zarten Stimme erwidert: „Oh, hier ist ja 'ne Basis! Cool!“ Mein Herz macht einen Sprung, als sich die Stimme vor meinem inneren Auge zu einer Person formt. Es ist Stimmuuung! „Kannst du mich hier rauslassen?“, flehe ich direkt und vergesse dabei, dass mein Gegenüber vermutlich nichts von meiner Entführung weiß.


    Ich höre, wie er draußen erneut gegen Zombies kämpft. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass die Entführer noch in der Nähe sein könnten. „Sei vorsichtig! Sie könnten noch irgendwo sein!“ warne ich ihn. „Hast du Stress, oder was?“, fragt er, doch bevor ich antworten kann lacht er: „Ich mach mal n‘ bisschen Stimmuuung!“ Dann erschüttert ein ohrenbetäubendes Krachen die Stille. Im ersten Moment halte ich es für das Aufsprengen eines Tors, aber dann kommt die Ernüchterung. So klingt keine Sprengladung. Ich halte mir die Ohren zu… Stimmuuung hat tatsächlich draußen ein verdammtes Feuerwerk gezündet! Ist der irre?! Warum um alles in der Welt…? Natürlich greifen sofort die Zombies an. Ich hämmere verzweifelt gegen das Gittertor. Dann wird es still, abgesehen von einigen Schüssen. Er kämpft wohl erneut, entweder gegen Zombies oder vielleicht doch gegen die Entführer? „Alles klar bei dir? Haben sie dich erwischt?“, rufe ich besorgt. Die Unsicherheit macht mich beinahe rasend. Er antwortet erleichtert, dass er noch unverletzt ist. Plötzlich öffnet sich die Tür zum Zimmer, doch sie ist immer noch durch ein Tor versperrt.


    „Wer hätte das gedacht... eine Tür!“, seufzt er, typisch für seine Art, den Ernst der Lage vielleicht nicht ganz erfassend. Auch er beginnt gegen das Tor zu hämmern und deutet an, dass er jetzt seinen Sprengsatz anbringen könnte. Erleichtert atme ich aus, warne ihn jedoch erneut vor den möglicherweise noch anwesenden Entführern. „Wer denn? Was denn?“, fragt er, und ich erkläre ihm knapp von meiner unfreiwilligen Begegnung mit dem Blut-Transfusionsring, dessen Gefangene ich momentan bin. Er lacht, vermutet die Kannibalen von Gorka oder die Chuckle Chicks hinter der Aktion, aber ich widerspreche. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jay und ihre Mädels so etwas anzetteln würden. Nein, hier gehen ganz andere Dinge vor. Doch das ist momentan unwichtig. Für Stimmuuung klingt das nach schießbereiten bösen Jungs. Damit hat er definitiv recht und keiner von uns ahnt, wie recht. Aber so ganz scheint er den Ernst der Lage noch immer nicht zu fassen. Wo bleibt denn die Sprengung? Warum macht er dieses verdammte Tor nicht endlich auf?! Als sich nichts tut beginne ich von vorne. „Aber... kannst du mich hier rausholen?“, dränge ich erneut. „Ja wie...? Was soll ich? Warum? Was ist überhaupt passiert? Wurdest du hier eingesperrt, oder was?“, fragt er, und ich beginne, ihm von meinem Aufenthalt in Tishina, dem Überfall und meinem Transport in dieses unbekannte Gefängnis zu erzählen. Seine Ungläubigkeit ist deutlich zu hören, als er nur ein „Waaas?!“ herausbringen kann. Er beginnt verzweifelt zu lachen, als könnte er das alles kaum glauben und scherzt, ob ich den Chicks mit meinem Restaurantplan zu viel Konkurrenz gemacht hätte, das man mich nun so loswerden wolle. Zum Scherzen ist mir jedoch definitiv nicht zumute. Schließlich macht er sich daran, das Tor zu inspizieren. Während er auf gut Glück versucht das Tor zu knacken, berichte ich nochmals von dem Überfall in Tishina. Von Tishina kam ich dann über Umwege hierher… ja, aber wo ist „hier“ überhaupt? Das möchte ich jetzt wissen. Stimmuuung berichtet, dass wir uns gerade in Chernogrosk beim Riesenrad am Hafen befinden. Mir stockt der Atem. Was zum… und wie? Stimmuuung lacht nur. Aber so ganz scheint er mir noch nicht zu glauben. „Coole Story auf jeden Fall bis jetzt…“, gibt er sich lässig. Ich verzweifle schon wieder fast. Wie soll ich ihm denn noch begreiflich machen, in welcher prekären Lage ich mich befinde? Ich versuche die Fassung zu bewahren. Er lacht nur und hält das Ganze offenbar für ein großes Spiel. „Ja, ich weiß, dass du das vielleicht nicht glaubst“, beginne ich erneut, „aber es ist wirklich so, und es wäre echt schön, wenn du mich hier rausholen könntest.“ Das Lachen geht weiter. In Gedanken füge ich: „Verzeih, dass ich deinen abendlichen Umtrunk am Cherno-Hafen störe, werter Herr, aber könnten wir vielleicht wieder zu meiner Rettung schreiten?“ hinzu. Das darf doch alles nicht wahr sein.

    Dann ist es wieder ruhig und ich höre ihn nicht mehr: „Stimmuuung? Stimmuuung! Du kannst mich doch hier nicht alleine lassen.“


    Ich höre ihn nicht mehr und die Minuten der Stille ziehen sich in die Länge, bis ich schließlich draußen wieder ein zaghaftes „Hallo?“ höre. „Ähm, ich hab eigentlich nichts dabei oder in der Nähe, womit ich das Tor hier aufbekomme...“, beginnt er und mein Mut sinkt. Resignation macht sich breit, aber noch bin ich nicht am Ende. Stimmuuung ist hier, bei mir. Das ändert alles. Ich bitte ihn, den anderen zumindest zu sagen, wo ich mich befinde. „Das krieg ich hin“, verspricht er und lacht. Ich komme mir langsam veralbert vor. „Am Ende warst du es wahrscheinlich, der mich hier eingesperrt hat!“, herrsche ich ihn an in einem Anflug von emotionaler Überforderung. „Nee, ich hab damit nichts zu tun. Aber geile – superkrasse Aktion. Die haben dich wirklich umgeknüppelt?“, fragt er nun mit etwas mehr Anteilnahme nach. Zum gefühlt hundertsten Mal erkläre ich ihm die Situation. Dass ich in Tishina war und dort von einer Bande mit Wolfsmasken ausgeknockt wurde. „Geil…“, gibt er einfach nur träumerisch vor sich hin, als würde er mein Schicksal absolut spannend finden. „Was passiert hier? Oh mein Gott…! Und dann haben sie dich in ein Auto gezwungen?“ Ich bejahe. „Krass und die haben vorher hier diesen Käfig – die Zelle gebaut, sind hochgefahren, haben gehofft jemanden abzufangen…“ Ich bestätige und erkläre ihm nochmals, dass ich keine Ahnung habe, wer hinter all dem stecken könnte. Aber ich warne ihn auch gleich davor, es herauszufinden. Die Typen könnten noch irgendwo hier sein. Ihn kümmert das wenig. Er hat nichts zu verlieren. Anschließend möchte er noch ein paar Details über den Tag meiner Entführung, aber ich habe mein Zeitgefühl komplett verloren. Stimmuung beschließt, sich Sprengstoff zu holen. Hoffnung keimt in mir auf. „Bitte sag den anderen Bescheid, wo ich bin!“, flehe ich ihn an. „Das krieg ich hin“, verspricht er und wendet sich zum Gehen.


    Doch kaum möchte er sich entfernen, durchbrechen ohrenbetäubende Schüsse die Stille. Sie kommen aus dem Gang, direkt in Richtung Tür. Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Scheiße!“, stoße ich panisch aus. Ich höre eilige Schritte, das metallische Geräusch eines Nachladens. „Nein! Stimmuuung! NEIN!“, schreie ich, meine Stimme überschlägt sich vor Angst.


    Ein heftiger Schlag gegen die Tür lässt mich zusammenzucken. Eine kalte, unheimliche Stimme herrscht mich an: „Ruhe da drin!“ Mein Blut gefriert in den Adern. Ich bin zu schockiert, um mich zu bewegen. Die Realität schlägt wie eine Welle über mir zusammen. „Ihr Monster!“, schreie ich, Tränen laufen unkontrolliert über mein Gesicht. Wut, Hilflosigkeit und tiefe Trauer übermannen mich.


    Mit aller Kraft schlage ich gegen die Wände, meine Fäuste schmerzen, doch der Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem, was ich innerlich fühle. „Stimmuuung… Nein! Warum? Warum hast du nicht auf mich gehört...“, flüstere ich gebrochen. Draußen höre ich das schreckliche Geräusch von etwas, das zerschnitten wird. Mein Magen verkrampft sich. Stimmuuungs... Steaks. Der Gedanke ist unerträglich.


    „Nein... Stimmuuung. Das wollte ich nicht. Es tut mir so leid...“, wimmere ich. Die Stille, die folgt, ist erdrückend. Jede Sekunde zieht sich wie eine Ewigkeit. Hoffnungslosigkeit breitet sich in mir aus, kalt und erbarmungslos.


    Aus Minuten werden Stunden. Keine Geräusche mehr von draußen, nur die unbarmherzige Stille, die meine Gedanken erdrückt. Schließlich sinke ich erschöpft auf das harte Bett, meine Kräfte sind am Ende. Schluchzend rolle ich mich zusammen, während die Dunkelheit des unruhigen Schlafes mich gnädig umfängt.

    Tag unbekannt - Transition

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    "Already pulling me in

    Already under my skin

    And I know exactly how this ends, I

    Let you cut me open just to watch me bleed

    Gave up who I am for who you wanted me to be"



    Mein Zeitgefühl ist längst verschwunden. Wie viele Tage oder Wochen meiner Gefangenschaft bereits vergangen sind, weiß ich nicht. Weder kenne ich meinen Aufenthaltsort, noch habe ich ein Gespür für die Zeit, die in dieser Zelle vergeht. Wenn es der Plan meiner Entführer war, mich in Ungewissheit zu zermürben, dann haben sie Erfolg. Doch ich werde ihnen nicht den Gefallen tun, mich brechen zu lassen.


    Kälte, Hunger und Durst sind meine ständigen Begleiter, ebenso die bedrückende Stille. Kommunikation gibt es nur über kurze, notdürftige Nachrichten, die sie in das gelbe Fass legen. Worte, die kaum mehr sind als ein Echo in der Stille, die mich umgibt. Echte Gespräche? Fehlanzeige. Sie reden nicht mit mir, sie befehlen.


    Gestern Nacht - oder was ich dafür halte - wurde die drückende Stille jäh durch das Aufspringen der Tür zerrissen. Chuck kam herein, eine MKII in der Hand. Er richtete die Waffe auf mich und wies mich barsch an, mich mit dem Rücken an das Gitter zu stellen. Ich wusste, was nun folgen würde, denn ich sah das kalte Aufblitzen der Handschellen in seinen Händen, funkelnd wie sein Blick. Widerstand war zwecklos, also gehorchte ich.


    Die Handschellen schlossen sich kalt und erbarmungslos mit einem metallischen Klicken um meine Handgelenke. Der Schmerz und die Enge machten jede Bewegung unmöglich. Ein Schalter schien sich in meinem Kopf umzulegen: Ruhe bewahren. Stärke zeigen. Doch diese Leitsätze verblassten angesichts der absoluten Hilflosigkeit, die mich überkam. Panik stieg in mir auf, ich kämpfte sie nieder, doch mein Körper schien gegen mich zu rebellieren.


    Nachdem Chuck mich gefesselt hatte, öffnete er das Tor und trat in meine Zelle. In der Hand trug er einen alten, kratzigen Jutebeutel. Mir stockte der Atem. Offenbar war es nicht genug, mich zu fixieren – er wollte mir jede Möglichkeit nehmen, meine Umgebung wahrzunehmen. Die Panik, die ich bis dahin nur mit Mühe in Schach gehalten hatte, übermannte mich in diesem Moment vollends. Doch statt zu schreien oder laut loszuheulen, vergrub ich die Angst in mir und versank in einer stillen Dunkelheit. Es war, als hätte ich meinen Körper verlassen, als sähe ich die Szenerie von außen, distanziert und ohne Einfluss.


    Chuck führte mich durch das Treppenhaus. Seine Stimme, seine Befehle hallten in meinem Kopf wider, doch sie schienen weit entfernt. Mehrmals drohte ich zu stolpern, und wenn ich aus dem Tritt kam, brachte er mich durch gezielte Schläge wieder auf Kurs. Wie ich diesen Spießrutenlauf überstanden habe, weiß ich nicht. Doch irgendwann spürte ich die kalte Luft auf meiner Haut. Draußen. Freiheit – nur einen Atemzug entfernt. Doch es war eine trügerische Illusion. Schließlich spürte ich plötzlich den kalten Wind auf meiner Haut – wir waren draußen. Chuck zog mir den Sack vom Kopf, und ich erblickte zum ersten Mal den Ort meiner Gefangenschaft: Novodimitrovsk. Bisher hatte ich immer nur verwirrt und fliehend einen Blick auf die Stadt geworfen, aber nun, da ich auf dem Marktplatz stand, war mir die Sache klar.


    Der Wind heulte durch die verfallenen Gebäude, das Echo entfernter Schüsse mischte sich mit dem Jaulen der Wölfe. Ich wurde in ein Auto gezwungen. Ich wollte mich weigern, zerrte verzweifelt an meinen Fesseln – doch Chuck bestrafte meinen Widerstand mit einem harten Schlag seiner MKII. Der Schmerz durchzuckte meine Arme, und ich sackte zusammen. Schließlich ergab ich mich meinem Schicksal. Ich war ihm ausgeliefert und ich war machtlos.


    Warum sie mir den Sack abgenommen hatten, war mir unklar. Vielleicht, weil dieser Ort keine Rolle mehr spielen würde. Oder es war einfach nur Hohn – ein weiterer Moment, in dem sie mich glauben lassen wollten, ich hätte die Kontrolle verloren. Ein düsterer Verdacht schlich sich in meine Gedanken: Sie haben nicht vor, mich jemals wieder freizulassen.


    Die Fahrt ging durch die Nacht, und trotz der Angst und Anstrengung muss ich vor Erschöpfung eingenickt sein. Erst im Morgengrauen kamen wir am Ziel an. Man führte mich in einen heruntergekommenen Häuserkomplex, und ich sah ein weiteres improvisiertes Gitter, errichtet aus Brettern und Baumstämmen. Es diente als Tor und war mit Zahlenschlössern gesichert. Chuck stieß mich unsanft in die neue Zelle, schloss das Gitter ab und wies mich erneut an, mich mit dem Rücken an die Gitterwand zu lehnen. Er löste die Handschellen, und die Erleichterung war greifbar, als das Blut wieder in meine tauben Hände strömte. Dankbar rieb ich meine Handgelenke, bevor sich die Tür hinter mir mit einem letzten, endgültigen Geräusch schloss.


    Hier sitze ich nun – in einer Zelle, kleiner als die letzte, doch immerhin gibt es hier ein Bett und es scheint etwas wärmer zu sein. Das gelbe Fass steht wieder vor mir, grinst mich hämisch an, und ich weiß, dass sie erneut Blutspenden von mir erwarten. Die Realität meiner Situation wiegt schwer. Sie werden mich nicht freilassen. Und doch… vielleicht haben sie einen Fehler gemacht. Vielleicht gibt es Hoffnung. Vielleicht hat jemand meine Verlegung bemerkt. Vielleicht hat jemand unsere Fahrt verfolgt.


    Ich klammere mich an diesen Gedanken. Hilfe wird kommen. Sie muss kommen.


    Auch wenn ich schwach bin, kann ich nicht aufgeben. Wenn ihr mich hören könnt, wenn noch Hoffnung besteht – bitte, findet mich. Ich kämpfe weiter, solange ihr es auch tut.

    Tag 7 - Erniedrigt



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    "This is how it feels when you're bent and broken
    This is how it feels when your dignity′s stolen
    When everything you love is leaving

    You hold on to what you believe in."



    Mein Körper hat viel Schlaf gebraucht, denn ich erwache erst kurz vor 12 Uhr mittags. Im Fass wurde eine neue Nachricht hinterlassen: „DO IT!“ Ich muss schlucken. Wäre ich labil genug, würde ich das wieder als Aufforderung verstehen, meiner Misere selbst ein Ende zu setzen. Aber mein Wille zu überleben ist stärker denn je und im Fass entdecke ich auch eines dieser Blut-Entnahme-Sets sowie eine Schmerztablette.


    Ich weiß, was von mir erwartet wird, also handle ich. Die Entnahme schwächt mich merklich und ich lege mich erschöpft in die Ecke meiner Zelle. Kein Essen, nur Wasser. Aber immerhin. Mit den Patronen lege ich etwas später noch die Nachricht „DID IT“ in das Fass und lege das Bluttransfusions-Kit daneben. Meine Botschaft ist klar.


    Ich nehme mir eines meiner verbliebenen Wärmekissen und kauere mich in der Ecke meiner Zelle zusammen. Die Wärme tröstet, zumindest ein wenig.


    Als ich aufwache knurrt mein Magen laut. Ich will einfach weiterschlafen, die Realität für einen Moment ausblenden, doch da höre ich Geräusche. Schritte. Emsige Aktivitäten über oder neben mir, dazu das unverkennbare Klicken von Zahlenschlössern. Sie bauen etwas, vermutlich weitere Tore.


    Als mein Magen sich zunehmend bemerkbar macht, gehe ich erwartungsvoll zum Fass. Mich trifft fast der Schlag. Lediglich das Wort „DEAD“ ist dort zu lesen und daneben stehen eine Spaghetti Dose und zwei weitere Blutentnahme-Sets. Einerseits scheint die Nachricht wie eine Drohung, aber zumindest ist etwas zu Essen im Fass. Da fällt mir auf, dass ich gar keinen Dosenöffner mehr habe, denn der lag im Fass und nun ist er weg.


    Ist dies wieder eines dieser perfiden Spiele? Aber zum Glück habe ich noch das Messer. Ich schaffe es irgendwie, die Dose zu öffnen, schneide mich dabei aber fast. Vorsichtig esse ich den Inhalt, langsam, fast rituell, um mir einzureden, dass es reichen wird.


    Anschließend zapfe ich erneut Blut ab. Der Akt ist mechanisch geworden, ein Ritual, das jede Emotion erstickt. Die Schwäche überkommt mich wieder, aber bevor ich mich hinlege, hinterlasse ich eine Nachricht: „ND FD“. Mehr Patronen für „Need Food“ habe ich nicht.


    Als ich erwache, erwarte ich die gleiche karge Botschaft wie zuvor. Doch diesmal nicht. Im Fass liegen mehrere Dosen Katzenfutter, eine Dose eingelegte Pfirsiche und ein Wärmekissen. Der Anblick trifft mich. Ein bizarrer Mix aus Sarkasmus und Fürsorge.


    Diesmal liegt keine neue Nachricht bei. Also schreibe ich selbst ein einfaches „THX“ mit den verbleibenden Patronen und beginne, die Dosen eine nach der anderen zu öffnen. Katzenfutter. Der Geschmack ist ekelhaft, aber ich esse. Ich muss essen. Die Pfirsiche hebe ich mir für den Schluss auf, wie eine Belohnung für das Durchhalten.


    Danach lege ich mich zurück, den Kopf voll wirrer Gedanken. Sind das wirklich nur Spiele? Ich spüre, wie der Hunger nach mehr als nur Nahrung mich auffrisst. Doch die Erschöpfung gewinnt. Die Zelle verschwimmt vor meinen Augen, bis ich wieder in den Schlaf sinke.


    Tag 6 - Abgrund

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    "My faith, my family, my freedom

    That's what's backin' me

    Gives me a reason for living

    I gotta fight for what I believe in, believe it"


    Heute ist es fast vorbei. Ich glaube wirklich, dass dies mein letzter Tag sein könnte. Am Morgen erwartet mich im Fass eine Nachricht. Es ist einziges Wort, das mit Patronenhülsen gelegt worden ist: „BLUT“. Daneben liegt ein Jagdmesser, still, kalt, wie eine stumme Einladung. Kein Essen, kein Trinken, keine Blutentnahme-Sets. Nur dieses eine Messer und die vier verhängnisvollen Buchstaben. Mir wir gleichzeitig heiß und kalt, als ich begreife, was sie damit bezwecken wollen. Ich habe nach dem Warum gefragt und nun habe ich meine Antwort. Das Messer lockt mich, es scheint mir eine Lösung anzubieten. Die einfachste Möglichkeit, all dem hier ein Ende zu setzen. Ein Schnitt, ein bisschen Schmerz, und dann keine Qualen mehr.


    Ist meine Mission hier damit beendet? Soll mir das Messer und das fehlende Essen das sagen? Bin ich nur eine Blutquelle gewesen, die nun keine Bedeutung mehr hat? Ihnen ist es egal, was ich mit mir anstelle. Und was war mit den kleinen Zeichen der Menschlichkeit? Dem Wecker, dem Wärmekissen? Es ergibt alles keinen Sinn. Wie konnte ich auch nur für einen Moment annehmen, dass man mich wie einen Menschen behandeln würde.


    Die Mauer, die ich mühsam um meinen Willen aufgebaut habe, zerbricht in diesem einen Moment. Ich versuche nach Kräften, die Steine wieder aufzuheben und sie übereinander zu stapeln, aber es gelingt mir nicht. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass ich den inneren Schutzwall in Wahrheit gar nicht mehr aufrechterhalten möchte. Wozu? Alles fühlt sich so leer an. Der Gedanke daran, meine Gefangenschaft und meine Qualen hier hinter mir zu lassen, wird auf einmal so verlockend. Ich greife mit zitternder Hand nach dem Messer und ich versuche ruhig zu atmen. Komisch, innerlich bin ich ganz ruhig, aber meine Muskeln gehorchen meinem Willen nicht mehr und zittern ununterbrochen. Ich setze das Messer an meiner Haut an, und in diesem Moment scheint es, als würde all der Schmerz, all die Verzweiflung in einem klaren Punkt zusammenlaufen.


    Ich schließe meine Augen, um innerlich Abschied zu nehmen. Ich denke an Hikaru, wo mag sie jetzt wohl sein? Ich sende einen letzten Wunsch in meinen Gedanken auf die Reise und hoffe, dass sie wohl auf ist und vor einem Schicksal wie dem meinigen verschont bleibt. Ob es Blue vor seinem unheilvollen Schuss durch meine Erziehungs-Vaiga damals auch so ging? Ja, ich bereue es noch immer, aber ich bin froh, dass er mir verziehen hat. Ich denke an Jammet, der immer einen seiner Wortwitze parat hat, um die Stimmung aufzuhellen und mein ganz eigener kleiner moralischer Kompass geworden ist. Wie sehr könnte ich das nun gebrauchen, aber ich weiß auch so, was er mir sagen wollen würde. Ich verdränge den schmerzenden Gedanken und besinne mich auf unseren Grauen. Er würde sicherlich Dinge sagen wie: „Kein Mitleid. Selbst Schuld“ oder so. Dabei meint er es oft auch gar nicht so, davon bin ich überzeugt. Aber ja, ich höre seine Worte beinahe in meinen Ohren. Schließlich denke ich an unseren Opi, der mich lehrte, dass selbst die ältesten und tiefsten Narben ein Zeichen für das Überleben sind und es immer weiter geht. Für einen Moment halte ich inne und sehe alle ihre Gesichter vor mir. Dann erscheint Black Lion vor meinem inneren Auge. Ich sehe, wie er mich anlachte, als wir das letzte Mal gemeinsam am Lagerfeuer saßen und nicht ahnten, was uns bevorstehen würde. Es war mein Geburtstag und die anderen hatten eine Überraschungsparty für mich in Prigorodki organisiert. Ich fühle noch immer, wie er mich in seine starken Arme schließt und mir alles Gute wünscht. Die Erinnerung schmerzt und ich starre erneut auf das Messer in meiner Hand. Es hat sich von meiner Haut wegbewegt. Diese Menschen, diese Freunde, sind der Grund, warum ich noch hier bin. Sie sind es, warum ich weitermachen muss. Sie geben mich bestimmt nicht auf, also darf ich es auch nicht tun!


    Ja, die Verzweiflung übermannt mich heute. Ich fühle mich leer, ohne Hoffnung. Aber als ich dasitze, das Messer in der Hand, wird mir eines klar: Ich kann das nicht tun. Nicht für mich, und nicht für die, die noch auf mich warten. Für Hikaru, Black Lion, Jammet, Blue, s-tlk Opi und all die anderen, die für mich gekämpft haben und weiter für mich kämpfen. Ich schulde ihnen das. Und ich schulde es mir selbst.


    Einem plötzlichen Impuls folgend werfe ich das Messer gegen die Holzwand und schüttle mich. Einsam hallt das Geräusch des auf den Boden fallenden Werkzeugs durch den Raum. Ich werde weitermachen, komme was wolle! Es gibt keine Situation, die so ausweglos ist, dass man die Hoffnung selbst aufgeben sollte, auch wenn sie versuchen sie mir zu nehmen. Auch wenn der Schmerz manchmal alles übermannt – ich werde weitermachen. Für sie, für mich. Für das Leben, das vielleicht doch irgendwo hinter diesem Albtraum auf mich wartet.


    In das Fass forme ich die Worte „AS IF!“ und gebe so einen weiteren Protest von mir.



    Ein neuer Plan beginnt sich in meinem Kopf zu formen. Das Messer könnte mir vielleicht helfen, hier rauszukommen. Zuerst versuche ich, das Schloss zu knacken, doch es gelingt mir nicht. Ich setze die Klinge an das Gitter, doch das Holz ist zu hart, das Messer gleitet ab und hinterlässt kaum Spur. Auch die Bretterwände bieten keinen Schwachpunkt, gegen den ich eine Chance hätte. Aus Erfahrung weiß ich, dass es mehr als hundert Axtschläge braucht, bis so eine Wand nachgibt. Frustriert schlage ich mit dem Messer gegen die Wand, aber es bringt nichts. Schließlich stecke ich es weg. Vielleicht könnte es noch nützlich sein. Es ist noch nicht vorbei und der eigentliche Kampf beginnt erst.

    Tag 5 - Hoffnung

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    "I wanna change the world, I wanna save the world

    But I can't even save myself"



    Die Morgendämmerung bringt ein unerwartetes Geschenk: Im Fass finde ich zwei gekochte Rindersteaks, mehrere Wasserflaschen, Getränkedosen und sogar ein paar dieser köstlichen Schokoriegel. Ein Moment der Erleichterung – keine Bestrafung für die Ereignisse von gestern, zumindest nicht heute.


    Das Fass dient nun auch als Wasserbehälter, was mir eine seltene Gelegenheit gibt, ein wenig mehr auf meine Hygiene zu achten. Vorsichtig wasche ich meine Hände und das Gesicht. Die Haut an meinen Handgelenken ist rau und wund gerieben von den Fesseln, die ich die letzten Tage immer wieder erdulden musste. Der Kontakt mit Wasser brennt auf meiner Haut, doch der kurze Schmerz ist es wert. Die Erfrischung lässt mich für einen Moment die Last der Gefangenschaft vergessen. Meine Kleidung hingegen bleibt in ihrem trostlosen Zustand – schmutzig, zerrissen, - eben ein Spiegelbild meines eigenen Zustands. Aber das kann ich nicht ändern.


    Eine rätselhafte Nachricht erwartet mich ebenfalls im Fass: Eine Reihe von Patronenhülsen formt die Buchstaben „P S C H“. Ist das Hohn? Soll es ein Laut sein, den man zu jemandem macht, der den Mund halten soll? Was wollen die Typen eigentlich? Was soll eine Botschaft, die ich nicht entschlüsseln kann? Patronen ohne Waffe sind genauso nutzlos wie meine Versuche, die Gedanken meiner Entführer zu durchschauen. Als Antwort lege ich mit denselben Hülsen „WHY?“ und lasse die Frage im Raum stehen, während ich mich anderen Gedanken widme.


    Trotz der unerwarteten Mahlzeit bleibt das Fass heute leer von Blutbeuteln, und keiner meiner Entführer zeigt sich. Die Stille drückt schwer auf meine Gedanken, und ich frage mich, ob diese Abwesenheit eine weitere Taktik ist, um meinen Geist zu brechen. Kurz spielt mein Verstand mit der Idee, dass das Fleisch ein Dankeschön von Chuck sein könnte – ein Lohn dafür, dass ich ihm gestern das Leben gerettet habe. Doch solche Hoffnungen sind gefährlich. Sie führen nur in Sackgassen, also schiebe ich den Gedanken schnell beiseite.


    Während ich das Fleisch langsam genieße, wandert mein Blick durch die Zelle. Ich inspiziere jeden Winkel erneut, suche nach Hinweisen, nach einem Ausweg, doch alles bleibt unverändert. Die Stunden schleichen vorüber, und ich falle immer wieder in einen unruhigen Schlaf. Die Isolation frisst sich in meine Gedanken, jede Sekunde verstärkt das Gefühl von Einsamkeit. Dennoch versuche ich, mich an den kleinen Dingen des Tages festzuhalten, beispielsweise an der reichhaltigen Mahlzeit und an der Möglichkeit, mich zu waschen. Aber selbst das ist ein Kraftakt. Mein geschundener Körper meldet sich immer lauter zu Wort: Verspannte Muskeln, schmerzende Gelenke und eine lähmende Müdigkeit, die mich jede Bewegung doppelt kosten lässt. Der ständige Bewegungsmangel in dieser engen Zelle macht alles schlimmer. Obwohl das Essen heute nahrhaft war, spüre ich die Nachwirkungen der Blutspenden. Mein Körper ist ausgemergelt, schwach, als würde er immer wieder an seine Grenzen gestoßen.


    Doch schlimmer ist der psychische Druck. Die Dunkelheit der Zelle scheint eins zu werden mit der Dunkelheit meiner Gedanken. Nächte ohne erholsamen Schlaf, gezeichnet von Angst und Unsicherheit, zerren an meinem Verstand. Immer öfter überkommt mich ein unkontrollierbares Zittern, das selbst das Schreiben zur Qual macht. Es fühlt sich an, als würde die ständige Anspannung mein Innerstes zerfressen.


    Trotzdem gibt es etwas, das mich aufrecht hält: der unbändige Wille zu überleben. Jeder schmerzvolle Atemzug, jeder zittrige Schritt erinnert mich daran, dass ich noch hier bin, dass ich nicht aufgegeben habe.


    Am Ende sammle ich die restlichen Patronenhülsen und ordne sie zu einem weiteren Wort an: „HOPE“. Ein erneuter, kleiner Akt des Widerstands, ein Funken in der Dunkelheit. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Wahrscheinlichkeit meiner Befreiung geringer, doch ich klammere mich an jeden Funken Hoffnung. Es ist mehr als ein Wort; es ist ein Versprechen an mich selbst. Ich werde nicht aufgeben.


    Tag 4 - Instinkt und Chaos (2)

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    "But my soul is not for sale."


    Es kommt noch schlimmer. Kaum eine halbe Stunde vergeht, da taucht Trinity wieder auf. Sie öffnet mein Gittertor und flüstert mir zu, dass sie mich befreien will. Ihre Stimme ist ruhig, fast vertraulich, doch ich traue ihr nicht. Nicht nach dem gestrigen Tag. Trotzdem habe ich keine andere Wahl, denn die Chance auf Freiheit, so dünn sie auch scheinen mag, lässt mich ihr folgen. Ich bin jedoch fest entschlossen: Die erste Gelegenheit zur Flucht werde ich nutzen.


    Kaum draußen, das Tor steht offen, renne ich los. Ein Sprint ins Ungewisse. Drei Häuserblocks schaffe ich, bevor mir die Luft ausgeht. Meine Lungen brennen, meine Beine versagen. Und dann höre ich es – das metallische Klicken einer Waffe. Trinity hat mich eingeholt. Hämisch lachend fesselt sie mich erneut mit einem Seil, ihre Augen funkeln vor Triumph. Sie hat die Jagd regelrecht genossen, als wäre ich ein Spielzeug, mit dem sie zu ihrem Vergnügen spielen kann. Sie führt mich zurück, durch das Treppenhaus, und ich stolpere hinter ihr her. Immer wieder brüllt sie, ich solle schneller laufen, obwohl ich kaum mehr stehen kann. Es scheint, als bereite es ihr Vergnügen, die eigenen Unzulänglichkeiten in der Gruppe mit Machtausübungen mir gegenüber zu kompensieren. Ha… das habe ich gut analysiert. Aber es nutzt mir nichts und es ändert auch nichts daran, dass ich mich unweigerlich wieder auf mein Gefängnis zubewege. Sie geht in ihrer Rolle wirklich voll auf. Ich versuche sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie blockt ab.


    Oben angekommen stößt sie mich grob in die Zelle. „Knien!“ fordert sie, ihre Waffe unmissverständlich auf mich gerichtet. Ohne Widerrede folge ich ihrem Befehl. Was bleibt mir anderes übrig? So verharre ich, bis sich die Tür einige Zeit später wieder öffnet.


    Chuck betritt den Raum. Dieses Mal ist er nicht allein – mein vermeintlicher Retter vom Vortag ist bei ihm. Doch es ist nicht meinetwegen, dass Chucks Gesichtszüge vor Zorn brodeln. Trinity ist sein Ziel. Ohne zu zögern, fesselt er sie mit Handschellen. Die zweite Person hält sie mit der Waffe in Schach. Chucks Worte sind kalt, durchdrungen von einem grotesken Hauch von Überlegenheit. „Du musst bestraft werden“, erklärt er in einem Tonfall, der mich an meinen absoluten Hasslehrer erinnert. Ich bekomme Gänsehaut. Schließlich stößt seine Begleitung Trinity in meine Zelle.


    Nun knien wir beide nebeneinander und warten auf das, was nun kommen mag. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was als nächstes passiert und versuche es auch gar nicht erst. Was für einen Sinn soll diese Aktion nun wieder haben? Das widerspricht so ziemlich allem, was der vernünftige Menschenverstand fassen kann. Irgendwann komme ich zu dem Entschluss, dass ich die Situation einfach hinnehmen muss. Ich habe einfach keine Kraft mehr und schaue lediglich starr auf den Boden. Chuck predigt über seine „Güte“ und dass sie ihre Strafe absitzen müsse, während Trinity stumm bleibt. Schließlich verlässt er den Raum, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Alles ist so surreal. Was sind das hier für Zustände? Ich kann dem Ganzen nicht mehr folgen.


    Die Stille ist schwer, fast greifbar. Ich sehe Trinity an. Etwas in ihrer Haltung wirkt zerbrechlich, trotz ihrer sonst so harten Fassade. Langsam beginne ich, meine Fesseln zu lösen. Es dauert etwas, doch schließlich gibt auch dieses Seil nach. Ich stehe vor meiner unerwarteten Zellengenossin und überlege. Da kommt mir eine Idee. Mit einem rostigen Nagel öffne ich ihre Handschellen. Aber anstatt Dankbarkeit zu zeigen, beginnt sie sofort, die Zelle zu durchsuchen. Meine kleine Kiste mit meinen „Ankern“ fällt ihr ins Auge, und sie greift danach. Wut flammt in mir auf. Meine Mütze, das Wärmekissen – sie will alles an sich reißen. Ohne nachzudenken stürze ich mich auf sie. Es ist ein Kampf, roh und verzweifelt. In der Hitze des Moments fällt eine kleine Pistole aus ihrer Jacke auf den Boden – eine MK-II. Blitzschnell greife ich danach. Laden. Entsichern. Alles geschieht instinktiv. Wo kommt diese Waffe her? Hat Chuck sie übersehen? Egal. Ich richte die Waffe auf mein Gegenüber. Trinity erstarrt in der Bewegung und blick mich kalt an. In diesem Augenblick sind die Rollen vertauscht. Sie ist mir ausgeliefert. Mein Finger zuckt am Abzug. Ein einziger Schuss – so einfach wäre es. Doch stattdessen reiße ich die Waffe nach oben und entleere das Magazin in die Luft. Die leeren Patronenhülsen klirren zu Boden, während ich keuchend dastehe. „Nein… ich bin nicht wie du“, flüstere ich, lasse die Waffe fallen und spüre, wie mir die Tränen kommen. Selbst unter solchen Umständen bin ich einfach unfähig, jemanden zu töten.


    Trinity sagt nichts. Ihre Augen suchen meine, doch ich kann ihren Blick nicht deuten. Was ist das alles hier? Warum reagiert niemand auf die Schüsse? Es fühlt sich an, als hätte Chuck das alles inszeniert – ein Test, ein hinterhältiges Spiel. Wollte er, dass ich Trinity für ihn beseitige? Doch wenn das sein Plan war, hat er mich unterschätzt.


    Nach einer Weile, in der wir schweigend nebeneinander sitzen, löst sich die Spannung zwischen uns. Es ist fast so, als hätten wir beide erkannt, dass wir in diesem Chaos nicht mehr Feinde sein können. Wir werden Zweckverbündete.


    „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist gelb…“, versuche ich die Situation mit einem Spiel aufzulockern. „Die Tonne“, gibt sie kurz angebunden zurück. Offenbar geht mein Plan nicht ganz auf. Trotzdem fordere ich sie auf, weiterzumachen. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, beginnt sie und macht eine theatralische Pause, „und das ist ein Wille zum Leben.“ Das hat gesessen… ich schweige. Mache ich wirklich so einen komplett verlorenen Eindruck? Vermutlich. Und genau in diesem Moment beginne ich mich zu fragen, wo wirklich der Sinn in all dem hier liegt. Aber statt das lang und breit auszudiskutieren, ziehe ich mich in meine Ecke zurück und wir belassen es dabei.


    Einige Zeit später kehrt Chuck zurück. Er befreit Trinity aus der Zelle, doch nicht ohne Bedingungen. Sie müsse ihm 1000 Nägel in 10 Boxen bringen, erklärt er kühl, und eine Entschuldigung aussprechen. Wortlos verlässt sie den Raum und folgt ihren Kameraden.


    Nun bin ich wieder allein. Die seltsamen Wendungen des Tages hallen in meinem Kopf wider. Trotz allem spüre ich eine seltsame Verbindung zu Trinity. Vielleicht hätten wir unter anderen Umständen sogar sowas wie Freunde sein können. Doch was bringt morgen? Eine Frage, auf die ich keine Antwort habe – außer, dass die Spiele noch nicht vorbei sind.

    Tag 4 - Instinkt und Chaos (1)


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    "You thought you would always control mе

    You clipped my wings, my dreams in two

    I guess that you don't еven know me

    'Cause I'll never be like you"


    Der Tag beginnt mit bedrückender Stille. Kein Laut dringt durch die Wände, kein Lebenszeichen aus dem Haus. Das Fass bleibt leer. Wahrscheinlich soll das meine Strafe für den Ausbruchsversuch gestern sein. Aber letztendlich ist das für sie vermutlich ohnehin nur ein Spiel.


    Die Stunden schleichen dahin, und irgendwann halte ich die Stille nicht mehr aus. Ich rufe. Einmal. Zweimal. Immer lauter. Doch nichts geschieht. Niemand antwortet. Entweder ist tatsächlich niemand da, oder sie wollen mir zeigen, wie ohnmächtig ich bin. Ihre Macht demonstrieren. Als ob ich daran zweifeln würde…


    Am Nachmittag höre ich Schritte. Die Bewacherin tritt ins Zimmer, und sofort fällt mir ihre Ähnlichkeit mit Trinity aus Matrix auf. Warum erinnern mich all diese Menschen an Figuren aus alten Filmen? Vielleicht, weil ich mich selbst wie in einem schlecht produzierten Actionstreifen fühle.


    „Hier“, sagt sie knapp und reicht mir eine Dose durch das Gitter. Dankbar nehme ich die Dose mit zittrigen Händen durch das Gitter entgegen und verschlinge ich die Pfirsiche darin gierig. Ich achte nicht darauf, ob sie kalt oder alt sind. Es ist nicht viel, aber es füllt das nagende Loch in meinem Magen. Während ich kaue, lasse ich meinen Blick nicht von ihr. Ihre Haltung, ihr Blick, ihre.. nennen wir sie subversive Aura – alles an ihr schreit Widerwillen. Als Chuck in den Raum tritt, wird ihr Unmut noch deutlicher und die Luft scheint wie geladen.


    Chuck, der Anführer, das Alpha-Tier. Er wirkt heute angespannter, ungeduldiger als sonst. Trinity scheint das nicht zu gefallen. Ich sehe es an ihrem Blick, an der Art, wie sie seine Befehle nur widerwillig ausführt. Schließlich eskaliert die Situation. Ein falsches Wort, ein funkelnder Blick und plötzlich fliegen die Fäuste.


    Es ist ein wilder, chaotischer Kampf. Chuck schlägt zu, doch seine Bewegungen sind ungenau, seine Kraft scheint nachzulassen. Gestern hat er sich draußen mit meinem vermeintlichen Befreier geprügelt und dieser Kampf hat vermutlich Spuren hinterlassen. Trinity weicht seinen Schlägen geschickt aus, bevor sie selbst einen Treffer landet. Schließlich wird er unglücklich am Kopf getroffen und bricht zusammen, direkt vor meinem Gittertor.


    Stille. Trinity keucht, blickt von Chuck zu mir, dann wieder zu ihm. Niemand rechnete mit diesem Ausgang, am wenigsten sie selbst. Und obwohl er da vor mir liegt, bewusstlos, der Mann, der mich gefangen hält, schaltet mein Verstand in den Überlebensmodus.


    „Steh da nicht so rum! Hilf mir!“ Die Worte schießen aus meinem Mund, bevor ich sie stoppen kann und noch ehe ich verstehe, was eigentlich gerade passiert ist. Sie starrt mich an und zögert, während ich mich über Chuck beuge, seinen Puls prüfe und mit der Reanimation beginne. Es ist absurd. Lächerlich. Warum tue ich das? Warum lasse ich ihn nicht einfach sterben?


    Trinity sagt nichts, steht nur überfordert da, wie jemand, der plötzlich in ein Spiel gezogen wurde, dessen Regeln er nicht versteht. Zum Glück dauert es nicht lange, bis Chuck hustend zu Bewusstsein kommt. Sein Blick fällt auf mich, dann auf Trinity. Wenn Blicke töten könnten, hätte sie diesen Moment wohl nicht überlebt.


    Ohne ein Wort richtet er sich mühsam auf und wendet sich seiner Komplizin zu. Mit einer schnellen Bewegung verpasst er ihr einen brutalen Schlag in den Magen. Sie taumelt zurück, schnappt nach Luft. Dann, ohne ein weiteres Wort, humpelt er hinaus, und sie folgt ihm, gekrümmt und still.


    Ich bleibe zurück. Allein. Mein Blick wandert von der offenen Tür zu der Stelle, an der Chuck gelegen hat. Was zum Henker passiert hier? Alles, was ich über meine Entführer geglaubt habe, scheint plötzlich falsch. Wie hat mich der erste Eindruck, berechnende und kühle Profis vor mir zu haben, so täuschen können? Oder ist das am Ende auch wieder nur eine von meinen Fantasien, entstanden aus der Isolation heraus? War es eines ihrer Spiele oder eine Art Tests? Ich habe wirklich das Gefühl, immer mehr den Verstand zu verlieren. Entweder werde ich verrückt, oder sie sind es bereits schon. Vielleicht ist auch beides der Fall.

    Tag 3 - Täuschung

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    "Your words were your power over me."


    Plötzlich höre ich Schüsse und versuche das alles zu verarbeiten, aber es gelingt mir nicht. Hikaru… War sie wirklich hier oder werde ich verrückt? Es ergibt alles keinen Sinn. Sie würde mich nie verraten! Das kann einfach nicht sein.


    Dann höre ich plötzlich Motorengeräusche und Schritte. Eine Stimme donnert durch die Stadt: „Wenn du dich ergibst, lass ich Hikaru frei!“ Zwei erneute Stiche in meiner Brust. Sie kennen Hikarus Namen. Und sie sind bereit, ihr etwas anzutun. Aber das bedeutet auch, Hikaru ist nicht mit ihnen im Bunde, sondern ebenfalls ein Opfer. Und das wiederum sagt mir, dass diese Typen unsere Gruppe kennen wir, bzw. ich von Anfang an das Ziel dieser ganzen Aktion waren! Mein Herz sinkt. Diese Kerle wussten ganz genau, wen sie sich als Opfer ausgesucht hatten. Es war kein Zufall und ich bin ihnen wie ein ahnungsloses Bambi in die Falle getappt. Verdammt! Ich wäge meine Optionen ab, aber es hilft nichts. In einem Akt der Verzweiflung verstecke ich meine beschrifteten Zettel noch schnell in der Bar in der Hoffnung, dass sie später jemand findet. Anschließend trete ich auf die Straße und stelle mich mit erhobenen Händen. Ich weiß, es ist das Dümmste, was ich machen könnte. Ich weiß, wir Samariter verhandeln nicht mit Entführern. Ich weiß, ich werde es bereuen. Aber ich kann nicht anders. Innerlich gebe ich auf.


    Dann geht alles ganz schnell und ich nehme es nur wie durch einen Schleier wahr. Ich sehe, wie ein schwarzes Auto vorfährt. Mein vermeintlicher Retter tritt mit einer Waffe auf mich zu und weist mich an, mich auf die Straße zu knien. Ich befolge den Befehl wie in Trance. Brutal dreht er mir die Hände auf den Rücken und fesselt sie mit einem Strick. Ich fühle kaum etwas; bin leer und ausgebrannt. Resigniert. Mal wieder; wie so oft. Langsam aber deutlich werde ich von Chuck angewiesen, ins Auto zu steigen. Es geht wohl zurück zur Basis. Hikaru sehe ich nirgends. War das alles nur ein Trick? Mein vermeintlicher Retter zerrt mich aus dem Auto und eskortiert mich durch das Treppenhaus nach oben. Stufe für Stufe nähere ich mich wieder meinem Gefängnis. Das Tor schließt sich hinter mir. Ich bin wieder allein, befreie mich von meinen Fesseln, aber bevor ich noch etwas anderes unternehmen kann, treten meine Entführer wieder ins Zimmer – mein vermeintlicher Retter und Chuck. Sie machen mir mit einer entsprechenden Geste unmissverständlich klar, dass ich nicht fliehen soll.


    Außerdem scheinen sie sich über ihr grandioses Psychospiel und meine Gutgläubigkeit und Naivität zu amüsieren. Das Schlimmste: sie haben absolut recht damit. Ich bin wirklich zu naiv und berechenbar. Das war schon immer so und das hat man mir auch immer wieder gesagt. Nun bekomme ich die Rechnung in Form der hämisch lachenden Fratze von Chuck und seinem Gefolgsmann präsentiert. Für den Bruchteil einer Sekunde würde ich mich gerne in Selbstmitleid suhlen und mir einreden, dass ich selbst schuld an meiner Lage bin. Aber dann besinne ich mich eines Besseren. Ich bin nicht der Entführer; ich bin hier das Opfer. Ich habe nichts Verwerfliches getan, das waren die auf der anderen Seite des Gitters. Daran muss ich festhalten. Und noch etwas geht mir auf: So sehr es schmerzt, jetzt bin ich mir sicher - Hikaru ist in Sicherheit. Sie war nie hier. Mein Verstand hat mir einen Streich gespielt und die beiden haben meine Fürsorge und Freundschaft perfide ausgenutzt, um mich wieder einzufangen. Sie wollten wohl ein Spiel spielen und hatten nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich entkommen würde. Nun, dann macht euch von jetzt an mal auf etwas gefasst!

    Als sie sich genug über mich amüsiert haben, lassen sie mich allein mit meinen Gedanken.


    Als es dunkler wird, lege ich mich erschöpft nieder. Ich bin immer noch hier, immer noch gefangen. Aber Hikaru ist in Sicherheit. Ich werde weiterkämpfen; für sie. Ein neuer Funken an Hoffnung entfacht eine kleine Flamme: Meine Notizen! Vielleicht findet ja jemand meine Nachricht im verlassenen Rasthaus. Morgen ist ein neuer Tag, und mit jedem neuen Tag kommt eine neue Chance zur Flucht. Sicher, sie wird nicht einfacher werden, aber sie ist möglich. Das habe ich heute gesehen.


    Erschöpft lege ich mich schlafen. Ich bin nicht mehr nur eine Gefangene; ich bin eine Gefangene mit Hoffnung.