Epilog

Is this the moment? Is this the time?
Are you gonna wake up, gonna realize
Your world is burnin'? Thousand signs
But you're choking on the smoke from the other side
Der Stift in meiner Hand zittert. Vielleicht ist es die Kälte, vielleicht die Erinnerung. Ich weiß nicht, ob ich das hier schreiben sollte, ob es überhaupt etwas ändert oder jemanden interessiert. Aber die Worte müssen raus; irgendwie. Sie haben sich in mir festgesetzt wie lästige Splitter, der bei jeder Bewegung schmerzen. Aber jeder Splitter muss früher oder später raus.
Seit ich nach Prigorodki zurückgekehrt bin, habe ich mir keine Sekunde Ruhe gegönnt.
Die Arbeit an den Lagern, die Organisation von Vorräten, das Koordinieren von Lieferungen – all das ist wieder mein Leben geworden. Und wie sie alle angepackt haben!
jayphiiyo , Black Lion Jammet, Pinky, @Hikaru… sogar NiggoB und seine Truppe. Es tut gut mich in der Arbeit zu verlieren, denn solange ich beschäftigt bin, denke ich nicht an Chernogorsk. Ich denke nicht an die Schreie, die Explosionen, all das Blut. Solange ich in Bewegung bleibe, kann ich den Bildern entkommen, die sich tief in meine Erinnerungen gebrannt haben. Darum gönne ich mir keine Pause.
Doch heute hat der, den ich Chuck ( Le-Chuck ) nenne, diese mühsam errichtete Mauer in einem gezielten Moment wieder eingerissen.
Er taucht auf, wie ein Dämon, der sich aus der Dunkelheit löst. Ich fühle ihn, bevor ich ihn sehe. Ich spüre, wie sich sein Blick seinen Weg durch mich hindurch bohrt, als würde er all die Narben auf meiner Seele lesen können und sich an jeder einzelnen ergötzen. Und so steht er plötzlich vor mir. Wie aus dem Nichts; ausgerechnet hier mitten in Prigorodki.
„Was machst du hier?“, knurre ich ihn wütend an und würde am liebsten nach meiner DMR greifen, die ich den kalten toten Händen des Asiaten entrissen habe und die seitdem mein ständiger Begleiter hier in Prigorodki ist. Aber es geht einfach nicht.
Ich kann es einfach nicht. Selbst, wenn mein Leben davon abhängt. Ich muss ein lächerliches Bild abgeben.
Er hebt die Hände in einer Geste falscher Unschuld. „Na, na, na. Ich möchte nur reden. Kein Grund, nervös zu werden, Herz-Aus-Gold.“ Seine Augen wandern über das Lager, als ob er jede kleine Schwäche, jede Lücke im Schutz registriert. „Schön hast du’s hier. So… friedlich.“
„Hör auf, um den heißen Brei zu reden,“ schneide ich ihm das Wort ab. „Sag, was du willst, oder geh!“
Er lacht. Natürlich lacht er. „Gehen? Ich bin doch gerade erst gekommen. Weißt du, ich liebe einfach die Ruhe hier. Es ist hier so schön still, findest du nicht?“ Seine Augen – oder zumindest das, was ich hinter seiner Brille erkennen kann – mustern mich als sei ich eine Schachfigur.
Ich antworte nicht. Seine Worte schmeicheln dem Lager nicht; sie sind wie kalter Stahl, der langsam in meine Haut dringt. „Du hast hier nicht das geringste verloren!“, zische ich schließlich. Meine Stimme ist schärfer, als ich es geplant hatte, aber sie kommt tief aus meinem Inneren und ist voller Überzeugungskraft.
Er tritt näher, langsam. Da ist sie wieder. Diese unerträgliche Ruhe, die er immer den Tag gelegt hat, wenn es wichtig wurde. Als er auf mich zukommt, schießt mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Ich bin allein; ihm ausgeliefert. Schon wieder. Meine Freunde sind nicht hier und werde mich dieses Mal nicht rausboxen. Ich mache instinktiv das Einzige, was mir sinnvoll erscheint. Mit so viel Selbstbewusstsein wie möglich schleudere ich ihm mit tiefer, fester Stimme entgegen: „Keinen Schritt weiter! Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das Lager unbewacht ist? Nach all dem, was ich durchgemacht habe… was du mir angetan hast? Wie blöd wäre ich da, wenn ich nicht meine Aufpasser in der Nähe hätte? Noch ein Schritt und dein Kopf bekommt ein weiteres Loch“, versuche ich den Schein zu wahren.
Er bleibt stehen, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Es ist jedoch kein freundliches Lächeln, eher das eines Raubtiers, das seine Beute umkreist und Spaß daran empfindet. „Netter Versuch, Herz. Wie damals, bei … wie hieß er noch gleich? Markooo, richtig? Aber bei mir wirkt dein kleiner Bluff nicht. Wir beide wissen, du bist allein.“
Meine Kehle schnürt sich zu. Woher weiß er von der Sache mit Markooo? Das war doch lange vor der Entführung! Damals habe ich meine Haut auch durch einen solchen Bluff gerettet, denn der Jungspund wollte seine Grenzen bis zum Anschlag ausloten. Bei ihm hat mein Bluff funktioniert und bis zuletzt hat er sich im Camp immer ganz genau umgesehen, aus Angst vor „meinen“ Scharfschützen, meinen Schutzengeln, meinen Schatten, die auf mich Acht geben. Aber wie kann Chuck das wissen? Verdammt, hat er mich etwa die ganze Zeit beobachtet? Ein Klos bildet sich in meinem Hals und meine Hände werden eiskalt.
Ich versuche trotzdem, mir nichts anmerken zu lassen. Eventuell blufft er ja gerade auch selbst. So recht mag es mir aber nicht gelingen. „Vielleicht. Vielleicht nicht,“ erwidere ich provokant. „Finde es heraus! Ich habe nichts zu verlieren.“
Seine Präsenz drückt schwer auf meine Brust. „Das glaube ich dir sogar,“ sagt er leise, „Ja, du hast nichts zu verlieren, weil du immer alles gibst.“ Er beginnt zu lachen. „Ironisch, nicht? Du gibst immer alles. Für andere. Und was bekommst du zurück?“
Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Zu überrascht bin ich von seinen Worten und meine Antwort bleibt in meiner Kehle stecken. Er hat einen wunden Punkt getroffen und er weiß es genau. Was soll das? Mein Blick spricht Bände, auch wenn ich das nicht möchte.
„Siehst du? Es beginnt. Oh ja!“, fährt er amüsiert fort, „Du bist das perfekte kleine Flämmchen, das für alle anderen brennt, ohne es zu merken. Und eines Tages, weißt du, was von dir übrig sein wird?“ Er macht eine dramatische Pause und gibt sich dann gleich selbst die Antwort: „Nichts. Nur Asche.“ Wieder ist es da. Das unheilvolle Lachen, als würde er sich über jede Faser meines Seins lustig machen.
„Du rennst ständig in Richtung Abgrund, Herz. Springst für jeden blindlings ins Feuer, den du siehst. Aber was ist, wenn dich eines Tages niemand mehr auffängt?“ Regungslos stehe ich da, unfähig etwas zu entgegen und lasse seine Worte kraftlos über mich hereinbrechen.
„Asche, Herz. Asche. Glaubst du wirklich, dass auch nur eines deiner geliebten Bambis, dann an dich denken wird? Sie sind wie Blätter im Wind. Heute hier, morgen fort und ab und an schießen sie dir sogar zum Dank für deine Mühen noch in den Rücken oder reißen die Früchte deiner Arbeit mit ihren bloßen Händen ein. Du kämpfst gegen eine Flut mit nichts als einem kleinen Eimer und merkst noch nicht einmal, wenn die Leute dich mit in die Wassermassen reißen.“
„Halt den Mund, Chuck,“ stoße ich endlich hervor, als ich mich aus meiner Starre befreien kann. Meine Stimme bebt vor Wut und etwas, das ich nicht ganz greifen kann. Angst? Zweifel? „Du weißt gar nichts über mich.“ „Oh, ich weiß mehr, als du denkst.“ entgegnet er bedeutungsvoll und tritt einen Schritt zur Seite, den Blick niemals von mir abwendend. „Ich weiß, dass du nie aufgibst. Und genau deshalb bin ich hier.“
Für einen Moment schweigen wir. Ich spüre, wie die Nacht dichter wird, schwerer. Er beobachtet mich, wie ein Schachspieler, der auf den nächsten Zug seines Gegners wartet.
„Was willst du von mir?“ Meine Stimme wird lauter, die Wut in mir steigert sich. „Ich bin nicht mehr die, die du brechen kannst. Das hast du nicht geschafft, und du wirst es auch jetzt nicht schaffen.“
Er lächelt und mein Herz pocht wie wild in meinen Ohren. „Brechen? Oh, Herz, du hast da was missverstanden. Ich muss dich nicht brechen. Du erledigst das schon ganz gut selbst.“
Die Worte treffen mich erneut wie ein Schlag in die Magengrube. Die Erinnerungen kommen zurück, mit einer Wucht, die mich fast umwirft.
Ich beiße die Zähne zusammen, mein Mund wird trocken. Die Erinnerung an die Entführung, an die Schreie, die Schläge, die Fesseln, das Hungern und die Kälte dringen mit aller Macht wieder in meinen Kopf vor. Alles ist wieder da – die Angst, die Hilflosigkeit, die Isolation. Ich kann es nicht abstellen. Er hier, um nachzulegen. Ich darf ihm kein Gehör schenken! Doch alles Ignorieren nützt nichts. Es ist, als wäre ich wieder dort, in der Dunkelheit, mit nichts außer meiner Angst, meiner Unsicherheit und meinem Schmerz. Nur dieses Mal findet der Kampf in mir selbst statt. Ich schließe kurz die Augen und versuche mich zu sammeln. Es ist ein Spiel. Er hält das alles nur für ein Spiel.
„Wofür das Ganze?“ rufe ich, meine Stimme rau von der unterdrückten Wut. „Das hier ist KEIN Spiel für mich. Das ist MEIN Leben, verdammt!“
Er lacht erneut, ein hohler, verächtlicher Laut, der in der Einsamkeit des Lagers gespenstisch widerhallt. „Genau das macht es doch so unterhaltsam, Herz. Dein Leben, meine Regeln.“
„Warum?“ frage ich schließlich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Warum all das? Wozu? Warum ich? Wirklich nur wegen meiner Blutgruppe und weil ich so ein leichtes Ziel war?“
Er sieht mich lange an, so lange, dass ich fast hoffe, er würde nicht antworten. Doch dann spricht er.
„Es ging nie nur ums Blut. Das war ein schmückendes, praktisches Beiwerk, aber es ging die ganze Zeit um dich. Um euch. Um dich und deine Samariterfreunde. Ihr seid anders, Herz. Ihr stellt euch gegen die Regeln dieser Welt und das ist… ausgesprochen dumm.“
Ich lache, kurz und bitter: „Dumm? Was du nicht sagst…“
„Ja, dumm“ sagt er, seine Stimme ruhig, belehrend. „Ihr denkt, dass ihr etwas bewahren könnt, was längst zerfällt. Ihr und euer verdammtes Helfersyndrom…“
Chuck lehnt sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. „Doch ich bin kein schlechter Verlierer. Ich muss euch gratulieren.“ Er lächelt verschmitzt in seinen Bart hinein. „Dir und deiner kleinen Bambi-Armee“. Diese Worte spuckt er fast schon verächtlich aus. „Ihr habt euch erstaunlich tapfer geschlagen, das muss ich euch lassen. Aber hast du dich nicht gewundert, warum ich nicht dort war, in Chernogorsk?“
Er lässt die Worte im Raum hängen, als wollte er mir die Zeit geben, eine Antwort zu finden, bevor er weiterspricht. „Es hätte ein Leichtes für mich sein können, dort zu sein. Ein Funkspruch, eine Koordination meiner Leute – und eure kleine Befreiungsaktion wäre im Keim erstickt worden. Aber ich wollte sehen, wie weit ihr gehen würdet. Wie viel seid ihr bereit, zu opfern, für andere oder für dich? Und was habe ich gesehen? Ein paar tapfere Züge auf einem Brett, das längst meinem Spiel geworden ist.“
Er lehnt sich vor, seine Augen funkeln kalt. „Du glaubst, du hast gewonnen, nicht wahr? Du glaubst, du bist frei? Aber es ging mir nie darum, dich dort zu behalten. Es ging darum, euch testen. Eure Entschlossenheit, eure Grenzen. Und ich wollte wissen, wie weit ich dich treiben kann, bevor du zerbrichst. Ich muss sagen, du hast mich - überrascht.“
Es folgt eine dramatische Pause. Chuck lässt seine Worte wirken, während er mich unverwandt anstarrt. Schließlich lehnt er sich zurück, die Andeutung eines triumphierenden Lächelns auf seinen Lippen. „Ihr habt die Schlacht gewonnen, Glückwunsch“, beginnt er wieder, „Aber der Krieg? Der hat gerade erst begonnen.“
Sein durchdringender Blick, der direkt in meine Seele zu schauen scheint mustert mich. „Es gibt keinen Platz für Menschen wie dich in dieser Welt. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Wir sehen uns.“
Dann dreht er sich um und geht, langsam, als hätte er alle Zeit der Welt und alles unter Kontrolle. Ich bleibe zurück, starre ihm nach, bis seine Silhouette im aufziehenden Nebel Prigorodkis verschwindet.
Etwas in mir will ihm folgen. Ihn aufhalten, ihn zur Rede stellen, oder ihm vielleicht einfach endlich mal so richtig eine reinhauen. Aber meine Beine fühlen sich an wie Blei und ich kann mich noch immer nicht rühren. Stattdessen bleibe ich stehen, und meine Gedanken beginnen zu kreisen. Seine Worte hallen in mir nach, bohren sich in die Stellen, die ich am härtesten zu verschließen versuche.
Vielleicht hat er recht. Vielleicht werde ich eines Tages nur noch Asche sein. Vielleicht kämpfe ich wirklich gegen eine Flut, die ich niemals aufhalten kann. Vielleicht ist mein Kampf umsonst. Der Zweifel hat sich in mir eingenistet, ein kaltes, giftiges Flüstern, das ich nicht zum Schweigen bringen kann.
Aber wenn die ganze Sache mit der Entführung eines gezeigt hat, dann dass meine Freunde und viele der Bambis eben doch da waren, als ich sie am dringendsten gebraucht habe. Das darf ich nie vergessen! Sie alle sind gekommen, um mich zu befreien und haben ihr Leben für mich aufs Spiel gesetzt. Es ist eben doch nicht so, wie Chuck es sagt. Trotzdem liegt eine erschreckende Wahrheit in seinen Worten. Manchmal schießen sie dir als Dank in den Rücken…
Ich lege den Stift weg und sehe noch einmal aus dem Fenster. Irgendwo da draußen ist er. Und irgendwo da draußen hat die nächste Runde bereits begonnen.
Ich bin müde, so unendlich müde…
-Herz-Aus-Gold
Ende von "Tagebuch eines Samariters in Chernarus - Missing in Action"