Von Tri Dolini über Solnichniy bis nach Berezino
"Always trusted too much, it was all I had
I was blind to the darkness in everyone I know."
Ich erwache durch das eindringliche Rufen von Hirschen, deren Klagen wie ein ferner, melancholischer Ruf nach Freiheit klingen. Das habe ich schön formuliert, oder? Tatsache ist, dass mir das Röhren nach einiger Zeit tierisch auf die Nerven geht. Okay, es ist endlich mal ein Reiz von außerhalb, aber irgendwann ist auch gut damit… Jedenfalls weiß ich definitiv, dass ich mich nahe eines Waldes befinden muss und die Wände der Hütte, in der ich mich noch immer befinde, wirken bedrückender als je zuvor. Zwar gibt es hier einen Kamin und ich überlege, ob ich nicht irgendwie ein Feuer entfachen könnte, um jemanden mit dem Rauch auf mich aufmerksam zu machen, aber leider finde ich nichts zum Anzünden. Papier und Holz könnte ich mir beschaffen, aber es scheitert an Streichhölzern oder einem Feuerzeug.
Doch meine Zeit hier ist ohnehin wieder nur begrenzt, wie sich bald herausstellt. Um die Mittagszeit werde ich erneut ... "abtransportiert".
Dieses Mal führt mich mein Weg in einen kleinen Verschlag in Solnichniy. Die Umgebung ist noch unbarmherziger als alles, was ich bisher erlebt habe. Keine Annehmlichkeiten, kein Bett, nicht einmal die dürftige Wärme eines provisorischen Schlafplatzes. Nur eine kalte, kahle Mauer und ein schmaler Lüftungsschacht, durch den gelegentlich ein Hauch frischer Luft und etwas Licht von außen hereinströmt. Es fühlt sich weniger wie eine Zelle und mehr wie ein Lagerraum an, in dem ich nur beiläufig deponiert wurde. Dennoch ist es wieder da – das gelbe Fass, mein stummer Begleiter, der sich wie ein drohender Schatten an meine Fersen heftet. Ob sie das Ding immer mitschleppen oder sich einen Vorrat angelegt haben? Ich frage mich wieder einmal, wie viel Aufwand diese Menschen betreiben müssen. Wie viele Verstecke haben sie gebaut? Und warum?
Auch wenn die Fragen immer wiederkehren, hat sich doch etwas hat sich verändert: Meine Entführer wirken angespannt. Die flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Zeichen sind da – ein nervöses Zucken, angespannte Stimmen, kurze Befehle. Sie wissen wohl, dass man ihnen auf den Fersen ist.
Draußen höre ich geschäftiges Treiben. Stimmen hallen durch die Luft, begleitet vom Poltern schwerer Kisten. Ich spüre ihre Rastlosigkeit, höre Flüche und Rufe, als die Entführer ihre Arbeit in Eile verrichten und ich schnappe ein paar Mal das Wort „Berezino“ auf. Zeit, aktiv zu werden! Ich nutze die Gelegenheit und hinterlasse einen weiteren Hinweis in der Kiste in meinem Verschlag: Eine Holunderbeere. Ein Geniestreich! Okay… nicht wirklich. Beeren… Berezino. Ich weiß, der Witz ist flach. Ich weiß, dass nicht sicher ist, ob Berezino wirklich unser Ziel ist. Aber ich weiß, dass meine Freunde genau diesen Hinweis verstehen werden. Wie oft haben wir Berezino liebevoll „Bere“ genannt. Das muss einfach hinhauen…
Wie gut, dass ich auf dem Weg hierher heimlich eine eingesteckt habe.
Noch bevor ich mir weitere Gedanken über weitere Hinweise machen kann, werde ich wieder aus meinem Verschlag geholt. Das gleiche Ritual, wie immer. Die gleichen Anweisungen, die gleiche Ohnmacht.
Unser Ziel scheint in der Tat Berezino zu sein. Ich werde in ein leerstehendes Gebäude gebracht, dessen Wände nur bedingt mehr Trost spenden als die, die ich zuvor in Solnichniy zurückließ. Dennoch bin ich froh, in einem Wohnraum zu sein und nicht mehr in dem kalten unwirtlichen Lagerraum. Die neue Zelle unterscheidet sich in Sachen Größe jedoch kaum von den anderen. Ein weiteres Gefängnis, ein weiterer Punkt auf einer scheinbar endlosen Reise.
Als ich mich allein glaube, wage ich es, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Ich höre das kehlige Grollen aggressiver Zombies und hoffe, dass vielleicht jemand in der Nähe ist, um darauf aufmerksam zu werden. „Hallo? Ist da jemand?“ Meine Stimme hallt durch die Wände, verliert sich in der Leere. Doch wie schon so oft bleibt mein Ruf nach Hilfe unbeantwortet.
Ich lehne mich gegen die kühlen Mauern, meine Gedanken kreisen rastlos. Der ständige Wechsel, die Ruhelosigkeit meiner Entführer und bei Nacht die eisige Dunkelheit jedes neuen Verstecks – alles deutet darauf hin, dass sich das Netz um sie enger zieht. Aber wie lange kann ich das noch durchhalten?
Wieder falle ich in die Routine des Wartens. Warten auf eine neue Verlegung. Warten darauf, dass meine Botschaften ihre Empfänger erreichen. Warten auf eine Chance.