Was er verloren hat

  • "Komm mit!"


    Meine Hand wird ergriffen und bevor ich reagieren kann, werde ich in Richtung der Garagen gezogen. Ich stolpere, wanke, aber bevor ich fallen kann, stemmt mich meine Partnerin wieder in die Höhe. Ein wenig ruppig, ein wenig hastig. Für Vorsicht bleibt nun keine Zeit mehr, auch wenn dies immer ihr oberstes Gebot war.


    Der erste Schuss hat uns aufgescheucht, hat die friedliche Idylle abprupt zerstört, in der wir uns so sicher wähnten. Der zweite Schuss bringt Angst - der dritte wirft Fragen auf. Wer greift uns an und warum? Viel wichtiger noch: Werde ich heute sterben? Wird SIE sterben?


    Die anderen um mich herum nehme ich nur unbewusst wahr. Merke kaum, wie sie um das Dorf herum Position beziehen, Deckung suchen, oder einen Gegenangriff starten. Jeder Schuss, der abgegeben wird, lässt mich zusammenzucken. Jede Kugel, die durch die Luft fliegt, die einen der Bewohner des Dorfes treffen könnte.


    Das Dorf. Sicherheit? Jetzt nicht mehr. Tishina erschien mir damals wie eine Oase in mitten der Apokalypse. Ein Ort, an dem man fast vergessen könnte, was die Menschheit verloren hat. Was ich verloren habe. Ich erinnere mich an ein vorsichtiges, doch freundliches Willkommen. An Hilfe, die uns gewährt wurde. Das man Worte austauschte, statt Kugeln. Tishina. Eine Oase...?


    Ein weiterer Schuss reißt mich aus meinen Gedanken und wieder stolpere ich - dieses Mal kann meine Partnerin nicht verhindern, dass ich falle. Der harte Steinboden empfängt mich unsanft, gleichzeitig dröhnen weitere Schüsse in meinen Ohren. Ich kann die Kaliber nicht zuordnen, kann nicht einmal sagen, wer dort schießt. Freund? Feind?


    Meine Partnerin schließt die Tore hinter uns, während ich mich wieder auf die Füße stemme. Das Gewicht meiner Ausrüstung zieht mich runter und nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal frage ich mich selbst, warum ich das Zeug mit mir herumschleppe. Ein Ballistikhelm, eine taktische Weste, die Taschen voll mit Munition und anderen Gegenständen. Nicht zu vergessen die gute alte Winchester auf meinem Rücken.
    Aber die Antwort, die ich mir gebe - so schal und leer wie immer - klingt dieses Mal nicht einmal für mich überzeugend. "Wenn ich diese Sachen nicht nehme, tut es ein anderer. Tut es ein anderer, bin ich tot.


    Wir lernen alle unseren Lektionen. Das ist in unserer Zeit unumgänglich und wir verarbeiten sie alle anders. Ich traf Leute, für die das Leben nur noch ein Spiel war. Ein blutiges, brutales Spiel. Sie sind innerlich bereits tot, die Apokalypse nahm ihnen den Sinn und darum suchen sie Ausschweifung in Blut und Gemetzel. Seltsam, wenn der Kampf ums Überleben und das Ende der Zivilisation beginnt, einen zu langweilen.


    Ich denke an die Leute aus dem Dorf, die gerade darum kämpfen, ihre Errungenschaft zu verteidigen. SIe bauten etwas auf, obwohl sie wussten, dass ein Dorf wie dieses unweigerlich Aasgeier anziehen würde. Tishina ist wie der Kadaver eines Tieres, noch gefangen in spastischen Zuckungen. Die Aasgeier fliegen ihre Kreise, stoßen hinab, aber mehr wagen sie nicht. Der Kadaver bleibt liegen, das Dorf bleibt bestehen. Sie kämpfen darum. Sie sind die Zuckungen, die in einer toten Welt den Anschein von Leben vermitteln.


    Dann sehe ich rüber zu meiner Partnerin. Ihren richtigen Namen hat sie mir nie verraten. Ein Jahr reisen wir nun schon zusammen durch die Apokalypse, haben Wasser, Essen und Schmerzen geteilt und doch kenne ich ihren richtigen Namen nicht. Phexlyn nennt sie sich selbst, als wolle sie mit dem, was sie früher war abschließen. Sie versteckt ihr Gesicht hinter einer Gasmaske. Aus Angst? Paranoia? Vielleicht ist es ein Selbstschutz, den sie braucht, um nicht den Verstand zu verlieren.


    Meine Partnerin bemerkt meinen Blick und nickt mir kurz zu. Das sagt alles, das genügt. Gemeinsam leben, gemeinsam sterben. WIr richten unsere Waffen auf das Tor, während um uns herum Stille eintritt. Vereinzelt fallen noch Schüsse. Sind sie weiter weg, als vorher? Ich lausche, aber jetzt ist es wieder still. Unruhe macht sich in mir breit und schließlich spreche ich aus, was mich beschäftigt. "Was, wenn sie alle tot sind? Wenn wir als letztes übrig sind?"


    Aber meine Partnerin gibt keine Antwort und die Gasmaske lässt mich nicht an ihren Gefühlen teilhaben. Dann hören wir Schritte, die sich dem Tor nähern. Mein Finger zittert am Abzug und unweigerlich muss ich an jene Lektionen denken, die ich für mich selbst gelernt habe. Vielleicht bin ich ein schwacher Mensch. Ich sehe keinen Sinn darin, den wenigen Menschen, die übrig sind, etwas wegzunehmen, um mein eigenes, wertloses Leben unnötig zu verlängern. Ich stelle die anderen über mich.


    Das rede ich mir gerne ein und glaube es selbst dann noch, als das Tor sich öffnet und ich beinahe abdrücke, als der Selbsterhaltungstrieb mich wie ein Schock übermannt.


    Ein tiefes Aufatmen unter der Gasmaske meiner Partnerin, als sie die Person vor dem Tor erkennt. Eine blaue Armbinde. Tishina - Sicherheit? Ich bin unschlüssig und fühle mich mies. Wie ein Feigling habe ich mich versteckt, während andere für das Dorf gestorben sind. Nicht nur die Angreifer. Ich mustere den Mann mit der blauen Armbinde und versuche mir vorzustellen, wie er seine Waffe auf einen Menschen richtet. Wie er abdrückt.


    Schnell schaue ich weg.


    Als wir ins Freie gehen, erscheint mir das Dorf auf einmal in einem anderen Licht. Die friedliche Atmosphäre ist für mich gewichen. Stattdessen fühle ich Anspannung, stetige Nervosität. Was, wenn es wieder passiert. Ich schaue zu meiner Partnerin, die sich zu dem Hutmann an das Feuer gesellt. Wenn ihr was passiert?
    Der Hutmann gibt sich ausgelassen, facht ein Feuer an. Gekochten Kürbis soll es geben, Traditionsgericht hier in Tishina. "Schön, diese Stille.", meint der Hutmann, aber ich kann mich einfach nicht entspannen. Nicht jetzt.


    Als ich aufstehe, merke ich, wie meine Partnerin mich ansieht. Worte sind kaum nötig, darum zucke ich nur mit den Achseln, als ich mich vom Feuer entferne. Sie versteht schon. Manchmal ist es fast so, als befände sich unser Bewusstsein in einem Raum, direkt nebeneinander. Wir müssen nicht reden, wir wissen bereits, was der andere tut, oder denkt.


    Während ich das Feuer hinter mir lasse und zur Garage zurückkehre, muss ich unweigerlich an jene denken, die heute gestorben sind. Das hätte ich sein können. Ich hätte dort liegen können, kalt, blutig. Ein Opfer der Gier, ein Opfer von Menschen, die sich nur noch durch den Tod, den sie anderen bringen, lebendig fühlen. Die das Leben nun nur noch als Spiel sehen. Ist es wirklich so, frage ich mich. Kann man nur überleben, wenn man reagiert? Schneller, brutaler, kälter als die anderen ist?


    Ich schließe das Garagentor hinter mir. Der Ort, an dem ich in den letzten Stunden nur Angst spürte, ist jetzt ein Ort der Sicherheit. Ein Ort der Sicherheit, in einem Dorf, das sicher sein sollte, es aber nicht ist. Dafür tragen die Bewohner keine Schuld, der Kadaver hat nie darum gebeten, Aasvögel anzulocken. Nur mir selbst mache einen Vorwurf. Ich, der ich zu feige war, für den Ort zu kämpfen, der mir vieles gab.


    Ich kauere mich auf den Boden, will für eine Weile einfach an nichts mehr denken müssen, als erneut Schüsse fallen. Dieses Mal mitten im Dorf. Eine volle Salve Maschinengewehrfeuer. Ich höre Schreie und zu meinem Entsetzen erkenne ich die Stimme meiner Partnerin. Ich will aufspringen, will ihnen zu Hilfe eilen. Zusammen leben, zusammen sterben!


    Doch mein Körper lässt mich nicht. Der Schock, die Angst, oder eine höhere Macht lähmt meine Glieder, lässt mich verharren. Still harre ich in meinem Versteck aus, bin unsichtbar, wie Luft für die Angreifer. Wie lange blieb ich dort? Stunden? Nur Minuten? Ich kann die Zeit nicht einmal schätzen, denn für mich ist es ständig Tag, ständig steht die Sonne am Himmel.


    Als ich mich schließlich wieder herauswage, ist es still im Dorf und ich bin allein. Trotz des Verbotes, greife ich zu meiner Waffe. Der Selbsterhaltungstrieb in mir, den ich stets verleugnete, hat erneut gewonnen. Langsam wage ich mich in das innere der Zelte vor, aber ich finde niemanden. Niemanden aus Tishina und auch nicht meine Partnerin. Nur Blut, nur die Spuren des Kampfes. Keine Leichen. Keine Lebenden.


    Ich rufe ihren Namen, rufe ihn, bis ich heiser bin, während Panik in mir hochkommt. Darüber sie verloren zu haben. Darüber, nun allein zu sein. Weine ich? Warum...weine ich? Ich bin der letzte. Bin ich der letzte?
    Da sind Schitte, die sich mir nähern, doch ich mache nicht einmal anstalten zu zielen. Warum noch kämpfen, wo doch alles, woran mir etwas lag, zerstört wurde? Nur das Dorf nicht. Der Kadaver. Er zuckt nicht mehr und nun kommen die Aasgeier.


    Doch statt einer Kugel, sehe ich einer Frau entgegen. SInd es nur Ähnlichkeiten, ein anatomischer Zufall, oder ist es mein Verstand, der mir ein anderes Gesicht vorgaukelt? Spielt es überhaupt eine Rolle? Ich merke, wie ich aufgeregt werde, unruhig. Ich darf das nun nicht vermasseln, gebe mich freundlich. Die Frau ist allein, müde und hungrig. Ihre Kleidung wirkt zerrissen und alt.


    Das Gesicht, dieses Gesicht...ich will es nicht mehr sehen.


    Alles verschwimmt und ich stehe außerhalb, beobachte, wie ich der Frau zeige, wo sie neue Kleidung und Essen finden kann. Dann sehe ich, wie ich sie zwinge, die Gasmaske anzuziehen. Ich mache deutlich, das ich da nicht mit mir reden lasse. Ihr lauter, panischer Protest verkommt zu einem undeutlichen Murmeln, als ich ihr die Regeln klar mache. Zusammen leben.


    Niemand muss sterben. Nicht wirklich jedenfalls, nicht in meinem Kopf. Ich blicke über das Dorf und weiß, das andere kommen werden. Andere Menschen, die für mich so aussehen werden, wie die Toten. Ein neuer Hutmann, ein neuer Arzt. In meinem Kopf werden es immer die selben Leute sein. Ich merke, dass ich lächle und eine neue Lektion lerne.


    Niemand muss sterben.


    Es ist nur ein Spiel, nicht wahr?

    [size=14pt]&quot;Just like old times...&quot;<br />[/size]

  • Habe es heute erst geschafft die Geschichte zu lesen. Ist mir aber immer im Hinterkopf geblieben das ich das noch machen wollte und das ist auch gut so.


    Sehr schöne Geschichte, fein geschrieben und sehr viel steht auch zwischen den Zeilen.


    Eine sehr schöne Tishina-Story (y)