05.07.2023 – Von Vanilleeis und Schutzengeln
Ein neuer Tag bricht an, und der LKW steht unverändert
an seinem Platz in Nizhnoye. Unser kleines Lager ist nach wie vor sicher
verschlossen. Wolfgang grüßt mich, als ich mit den anderen Kontakt aufnehmen
will.
Er berichtet von "Manfred", dem auf dem Rohbau
befindlichen Turm bei Prigorodki, der nun schon sechs Stockwerke umfasst. Das
Ding wächst, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass die Jungs so schnell nicht
aufhören werden. Kein gutes Zeichen, denn "Manfred" hatte schon
einmal eine äußerst negative Wirkung auf die Gemütslagen der Leute in und um
das Bambi-Lager. Aber hier in Nizhnoye ist vorerst Ruhe. Zeit für einen
Tapetenwechsel.
Notdürftig packe ich das Wichtigste zusammen, stecke ein
paar Dosen in meinen Rucksack und schleiche den Waldweg entlang Richtung
Solnichniy. Ein komisches Gefühl überkommt mich, während ich durch den dichten
Mischwald streife. Die Erinnerung an den Überfall auf Jahsan sitzt mir noch in
den Knochen, aber zum Glück passiert nichts, und ich versuche, mich auf die
positiven Dinge zu konzentrieren. Als ich am Lager in Solnichniy ankomme, fühle
ich Erleichterung. Die Zelte und Unterstände sind erstaunlicherweise noch intakt.
In Gedanken versunken räume ich meine Vorräte ein, sortiere die Kleidung.
Blue, Charly, Max und Wolfgang plaudern zwischendurch,
und es entspinnt sich eine Diskussion über Vanilleeis und die Frage, ob man
Schokostreusel darüber streuen sollte oder nicht, welches Vanilleeis nun am
besten schmeckt, und ähnliche Dinge. Es ist witzig, denn seit Jahren hat keiner
von uns auch nur irgendeine Sorte Eis gegessen. Wie denn auch in der
Apokalypse? Dafür kennen wir uns mit den zahllosen Geschmacksvariationen von rohen,
gekochten, gegrillten, gebackenen und geräucherten Kürbissen bestens aus.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, den Jungs
ist langweilig. So sehr ich die Ruhe hier auch genieße, so sehr juckt es ihnen
in den Fingern. Diese Schein-Diskussionen sind vermutlich auch ein Mittel, um
nicht den Verstand zu verlieren und sich an die guten alten Zeiten zu erinnern.
Doch ein Wehmutstropfen trübt das Bild. Wolfgang erwähnt beiläufig, dass
Hendrik sich möglicherweise aus unserer kleinen eingeschworenen Gemeinschaft
zurückzieht. Er hatte sich zuvor gemeldet, war aber nicht so redselig wie
sonst. Etwas scheint ihn zu beschäftigen. Warum genau und was passiert ist, das
habe ich nicht verstanden. Vielleicht mag er sein Vanilleeis einfach anders,
oder er steht nicht so auf Kürbisse?
Doch bevor ich darüber nachdenken kann, unterbricht Blue
die Diskussion und berichtet von einer Schießerei in Chernogorsk. Er war
dorthin unterwegs und ist den Geräuschen einiger Schüsse gefolgt, um die Sache
zu untersuchen. Überlebende hat er keine gefunden, aber auf der Höhe der Brücke
jede Menge Loot entdeckt. Vermutlich ist dort jemand der Schießerei zum Opfer
gefallen, und der Täter hielt es nicht für nötig, alles mitzunehmen. Ich danke
Blues Schutzengeln, dass ihm nichts passiert ist! Das hätte böse enden können.
Aber nun hat er das mitgenommen, was der Täter nicht gebrauchen konnte, und ist
nun wieder auf dem Weg nach Prigorodki, um es dort in den Zelten zu verstauen.
Unterwegs versucht er ein Wildschwein zu erlegen, um das Lager mit Fleisch zu
versorgen. Ich ermahne ihn, weiterhin vorsichtig zu sein. Zum Glück ist er
nicht allein, und Wolfgang hat ein wachsames Auge auf ihn.
Prigorodki. Irgendetwas zieht mich immer wieder dorthin.
So sehr ich meine Ruhe hier auch schätze, es wird höchste Zeit, dass auch ich
wieder einmal dort „unten“ vorbeischaue.
Meine Planung wird unterbrochen, als ich Alexejs Stimme
vernehme, der fragt, ob es wieder Alarm gegeben habe. Bis jetzt haben wir
nichts weiter von den Balzbubis gehört,a lso ist meine Antwort erst einmal ein
Nein. Doch dafür meldet sich ein anderer alter Bekannter zurück: Custer!
Überschwänglich begrüße ich ihn. Es ist zwar gerade mal fünf Tage her, seit dem
Vorfall am Camp, als ihn die Balzbubis kaltblütig erschossen haben, aber man
verliert hier irgendwie das Zeitgefühl und wenn man mal ein paar Tage nichts
voneinander hört, macht man sich schon so seine Sorgen. Zum Glück ist er wohl
auf und bereit, sich ins Getümmel zu stürzen.
Max und Kevin brechen ebenfalls auf in Richtung
Chernogorsk, um nach ihrer Basis zu sehen, benötigen aber noch einige Zeit für
die Reise. Ich hoffe, der Anblick der aufgebrochenen Basis nimmt die beiden
nicht zu sehr mit. Blue und ich haben uns ja noch um Schadensbegrenzung bemüht,
aber die Balzbubis haben bei der Basis wirklich ganze Arbeit geleistet.
Schließlich gesellt sich auch Mr. Green zu uns und lauscht zwischenzeitlich unserem
Stimmengewirr.
Ich habe einen Entschluss gefasst: Ich werde noch einen
Fahnenmast in Nizhnoye bauen und die Samariter WG vollenden, dann mache ich
mich auf den Weg nach Hause, nach Prigorodki. Zunächst treffe ich mich mit Wolfgang in Nizhnoye, damit
unser Bauprojekt starten kann. Wir beschließen, die weiße Fahne auf dem kleinen
Lager zu errichten, und legen den Grundstein. Doch dafür müssen wir noch einmal
zurück nach Solnichniy, um Material zu holen. Gemeinsam machen wir uns auf den
Weg und stoßen dort am Brunnen auf Custer, der es nach einigen
Anlaufschwierigkeiten auch nach Solnichniy geschafft hat. Wir statten den Armen
erst einmal mit dem Nötigsten aus, bevor er seinen Weg fortsetzt. Ich räume
noch ein paar Kürbisse in die Zelte, schnappe mir einen Doppelreifen für den
LKW und mache mich langsam auf den Rückweg Richtung Nizhnoye. Der Weg zieht
sich endlos, aber zum Glück komme ich heil an und kann dem LKW nun einen
weiteren Reifen spendieren.
"Verdammt, ich werde beschossen!", meldet Blue
plötzlich. "Wo?!", frage ich schockiert, mein Herz setzt für einen
Moment aus. "Prigorodki, am Lager!", ruft er. Ausgerechnet jetzt sind
Charly, Tabasko und die anderen nicht in der Nähe. Ich beiße mir auf die Lippe.
Zum Glück kann sich Blue hinter einen Heuballen zurückziehen, aber seine Jacke
ist ruiniert. Von den Äußerungen her müsste der Schütze vom „Mount Wolfgang“
aus schießen. Max und Kevin sind bereits unterwegs. Zum Glück! Die beiden geben
Blue Feuerschutz, und so kann er zumindest seine Wunden versorgen. Gemeinsam
versuchen sie, den Schützen zu erwischen, und tatsächlich muss er auch einen
Treffer einstecken, aber dann fehlt jede Spur, und es wird wieder ruhig im
Lager. Und ich pendle noch immer zwischen Nizhnoye und Solnichniy und trage
einen weiteren LKW-Reifen durch die Dunkelheit. Mehr kann ich leider nicht tun,
aber zum Glück haben Blues Schutzengel heute Überstunden gemacht.