Tag 4 - Instinkt und Chaos (2)
"But my soul is not for sale."
Es kommt noch schlimmer. Kaum eine halbe Stunde vergeht, da taucht Trinity wieder auf. Sie öffnet mein Gittertor und flüstert mir zu, dass sie mich befreien will. Ihre Stimme ist ruhig, fast vertraulich, doch ich traue ihr nicht. Nicht nach dem gestrigen Tag. Trotzdem habe ich keine andere Wahl, denn die Chance auf Freiheit, so dünn sie auch scheinen mag, lässt mich ihr folgen. Ich bin jedoch fest entschlossen: Die erste Gelegenheit zur Flucht werde ich nutzen.
Kaum draußen, das Tor steht offen, renne ich los. Ein Sprint ins Ungewisse. Drei Häuserblocks schaffe ich, bevor mir die Luft ausgeht. Meine Lungen brennen, meine Beine versagen. Und dann höre ich es – das metallische Klicken einer Waffe. Trinity hat mich eingeholt. Hämisch lachend fesselt sie mich erneut mit einem Seil, ihre Augen funkeln vor Triumph. Sie hat die Jagd regelrecht genossen, als wäre ich ein Spielzeug, mit dem sie zu ihrem Vergnügen spielen kann. Sie führt mich zurück, durch das Treppenhaus, und ich stolpere hinter ihr her. Immer wieder brüllt sie, ich solle schneller laufen, obwohl ich kaum mehr stehen kann. Es scheint, als bereite es ihr Vergnügen, die eigenen Unzulänglichkeiten in der Gruppe mit Machtausübungen mir gegenüber zu kompensieren. Ha… das habe ich gut analysiert. Aber es nutzt mir nichts und es ändert auch nichts daran, dass ich mich unweigerlich wieder auf mein Gefängnis zubewege. Sie geht in ihrer Rolle wirklich voll auf. Ich versuche sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie blockt ab.
Oben angekommen stößt sie mich grob in die Zelle. „Knien!“ fordert sie, ihre Waffe unmissverständlich auf mich gerichtet. Ohne Widerrede folge ich ihrem Befehl. Was bleibt mir anderes übrig? So verharre ich, bis sich die Tür einige Zeit später wieder öffnet.
Chuck betritt den Raum. Dieses Mal ist er nicht allein – mein vermeintlicher Retter vom Vortag ist bei ihm. Doch es ist nicht meinetwegen, dass Chucks Gesichtszüge vor Zorn brodeln. Trinity ist sein Ziel. Ohne zu zögern, fesselt er sie mit Handschellen. Die zweite Person hält sie mit der Waffe in Schach. Chucks Worte sind kalt, durchdrungen von einem grotesken Hauch von Überlegenheit. „Du musst bestraft werden“, erklärt er in einem Tonfall, der mich an meinen absoluten Hasslehrer erinnert. Ich bekomme Gänsehaut. Schließlich stößt seine Begleitung Trinity in meine Zelle.
Nun knien wir beide nebeneinander und warten auf das, was nun kommen mag. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was als nächstes passiert und versuche es auch gar nicht erst. Was für einen Sinn soll diese Aktion nun wieder haben? Das widerspricht so ziemlich allem, was der vernünftige Menschenverstand fassen kann. Irgendwann komme ich zu dem Entschluss, dass ich die Situation einfach hinnehmen muss. Ich habe einfach keine Kraft mehr und schaue lediglich starr auf den Boden. Chuck predigt über seine „Güte“ und dass sie ihre Strafe absitzen müsse, während Trinity stumm bleibt. Schließlich verlässt er den Raum, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Alles ist so surreal. Was sind das hier für Zustände? Ich kann dem Ganzen nicht mehr folgen.
Die Stille ist schwer, fast greifbar. Ich sehe Trinity an. Etwas in ihrer Haltung wirkt zerbrechlich, trotz ihrer sonst so harten Fassade. Langsam beginne ich, meine Fesseln zu lösen. Es dauert etwas, doch schließlich gibt auch dieses Seil nach. Ich stehe vor meiner unerwarteten Zellengenossin und überlege. Da kommt mir eine Idee. Mit einem rostigen Nagel öffne ich ihre Handschellen. Aber anstatt Dankbarkeit zu zeigen, beginnt sie sofort, die Zelle zu durchsuchen. Meine kleine Kiste mit meinen „Ankern“ fällt ihr ins Auge, und sie greift danach. Wut flammt in mir auf. Meine Mütze, das Wärmekissen – sie will alles an sich reißen. Ohne nachzudenken stürze ich mich auf sie. Es ist ein Kampf, roh und verzweifelt. In der Hitze des Moments fällt eine kleine Pistole aus ihrer Jacke auf den Boden – eine MK-II. Blitzschnell greife ich danach. Laden. Entsichern. Alles geschieht instinktiv. Wo kommt diese Waffe her? Hat Chuck sie übersehen? Egal. Ich richte die Waffe auf mein Gegenüber. Trinity erstarrt in der Bewegung und blick mich kalt an. In diesem Augenblick sind die Rollen vertauscht. Sie ist mir ausgeliefert. Mein Finger zuckt am Abzug. Ein einziger Schuss – so einfach wäre es. Doch stattdessen reiße ich die Waffe nach oben und entleere das Magazin in die Luft. Die leeren Patronenhülsen klirren zu Boden, während ich keuchend dastehe. „Nein… ich bin nicht wie du“, flüstere ich, lasse die Waffe fallen und spüre, wie mir die Tränen kommen. Selbst unter solchen Umständen bin ich einfach unfähig, jemanden zu töten.
Trinity sagt nichts. Ihre Augen suchen meine, doch ich kann ihren Blick nicht deuten. Was ist das alles hier? Warum reagiert niemand auf die Schüsse? Es fühlt sich an, als hätte Chuck das alles inszeniert – ein Test, ein hinterhältiges Spiel. Wollte er, dass ich Trinity für ihn beseitige? Doch wenn das sein Plan war, hat er mich unterschätzt.
Nach einer Weile, in der wir schweigend nebeneinander sitzen, löst sich die Spannung zwischen uns. Es ist fast so, als hätten wir beide erkannt, dass wir in diesem Chaos nicht mehr Feinde sein können. Wir werden Zweckverbündete.
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist gelb…“, versuche ich die Situation mit einem Spiel aufzulockern. „Die Tonne“, gibt sie kurz angebunden zurück. Offenbar geht mein Plan nicht ganz auf. Trotzdem fordere ich sie auf, weiterzumachen. „Ich sehe was, was du nicht siehst“, beginnt sie und macht eine theatralische Pause, „und das ist ein Wille zum Leben.“ Das hat gesessen… ich schweige. Mache ich wirklich so einen komplett verlorenen Eindruck? Vermutlich. Und genau in diesem Moment beginne ich mich zu fragen, wo wirklich der Sinn in all dem hier liegt. Aber statt das lang und breit auszudiskutieren, ziehe ich mich in meine Ecke zurück und wir belassen es dabei.
Einige Zeit später kehrt Chuck zurück. Er befreit Trinity aus der Zelle, doch nicht ohne Bedingungen. Sie müsse ihm 1000 Nägel in 10 Boxen bringen, erklärt er kühl, und eine Entschuldigung aussprechen. Wortlos verlässt sie den Raum und folgt ihren Kameraden.
Nun bin ich wieder allein. Die seltsamen Wendungen des Tages hallen in meinem Kopf wider. Trotz allem spüre ich eine seltsame Verbindung zu Trinity. Vielleicht hätten wir unter anderen Umständen sogar sowas wie Freunde sein können. Doch was bringt morgen? Eine Frage, auf die ich keine Antwort habe – außer, dass die Spiele noch nicht vorbei sind.