27. Juni 2023 – Düstere Entscheidung
Den Tag gehe ich heute mal wieder etwas ruhiger an. Als ich in Hikarus alter Garage aufwache, muss ich mich erst einmal etwas orientieren und natürlich hat der Schlaf auf dem harten Boden alles andere als gut getan. Ich strecke und recke meine steifen Glieder und begebe mich dann zu einem morgendlichen Spurt in Richtung Prigorodki. Jammet gesellt sich zu mir in den Funkkanal und ich berichte ihm von den Ereignissen sowie von einer weißen Fahne, die ich inzwischen gefunden habe. Jammet macht sich ebenfalls auf den Weg nach Prigorodki. Kanu kann heute leider nicht bei unserer Dreierrunde dabei sein, aber ich richte Jammet aus, dass er gerne die Bambi-Kisten an der Küste auffüllen kann, falls er Lust dazu hat. „Ich…ich LIEBE dieses Bambi-Kisten-Auffüllen“, beginnt er, „aber das mache ich unheimlich gerne zu zweit.“ Ich verstehe das. „Das ist so für mich, wie soll ich sagen… Kennst du diese Sachen, die du unbedingt mit einer ganz bestimmten Person machen möchtest? Das Bambi-Kisten-Auffüllen ist so meine Kanu-Routine. Ich liebe es!“ Das hat er schön ausgedrückt, aber ich stimme ihm zu. Die beiden sind einfach ein eingespieltes Team und da bedarf es keiner großer Absprachen oder Worte. Es klappt einfach. Ihn jetzt allein auf die Tour zu schicken, wäre nicht das Gleiche. Also beschließe ich zu schauen, was der Tag so bringt. Ich witzle noch zu Jammet, dass ich einfach mal nach Prigorodki laufe und falls ich es nicht schaffen sollte oder von feindlichen Überlebenden überrascht werde, könne er mich ja abholen. Etwas kleinlaut und besorgt sagt er nur „Ja…“ und ich merke, dass mein Spaß wohl nicht ganz so rüberkam. Aber immerhin ist er nun auch auf dem Weg in den Süden. Er kontrolliert noch unser Lager und schaut, ob noch alles in Ordnung ist. Ich erkläre ihm noch kurz, dass ich den Rucksack gestern vergeben habe.
Als ich über das weite Feld in Richtung Prigorodki renne, frohlocke ich innerlich und gebe Jammet durch: „Haha! Mein Plan hat funktioniert! Ich bin ja so durchtrieben…!“ Jammet kann mir offensichtlich nicht ganz folgen, aber das ist auch kein Wunder. Daher erkläre ich ihm den Grund für meine gute Laune: „Ich habe den Jungs gestern gesagt, sie sollen diesen Manfred-Turm wieder in Prigorodki aufbauen.“ Jammet erinnert sich daran, wie viel Chaos dieser Turm schon einmal in das Bambi-Auffanglager dort gebracht hat und dass viele Überlebende den eigenartigen Drang hatten, sich von dem Turm herabzustürzen. Ja, ihm wurde auch nachgesagt, dass er die Gedanken anderer Überlebender korrumpieren könne und sie zum Morden anstachele. So stammelt er wenig begeistert und ungläubig: „Ehrlich? Uahhh…“ „Ja!“, erwidere ich stolz. „Warum?“, fragt er nun verzweifelt. „Weil sie es dann nicht tun!“, lache ich triumphierend. „Und du meinst, sie hätten es sonst getan?“, will nun Jammet wieder wissen. Ich bejahe. Das würden sie und wenn es nur dazu dienen würde, uns zu ärgern oder einen Streich zu spielen. „Man muss wissen, wie die Jungs ticken…“, sage ich noch. Ob ich damit wirklich recht behalte? Wir werden sehen.
Als ich in Prigorodki ankomme, stecke ich mir ein paar Versorgungsgüter und etwas Proviant in meine Taschen. Jammet und ich tauschen uns etwas aus und er fragt sich, wo denn die ganzen anderen Überlebenden wie Jasmine, Hikaru und so geblieben sind. Auch ich muss etwas überlegen. Von Jasmine habe ich schon einige Zeit nichts mehr gehört, aber sie ist wohl mit ihrem englischsprachigen Freund Jayden unterwegs. Hikaru hat sich eine kurze Auszeit genommen, da sie einige Dinge in Angriff nehmen musste, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bedürfen und von Max und Kevin habe ich leider nichts gehört, außer dass sie wohl bald wieder einmal vorbeischauen wollten. Custer, Alnitak, Brah und Proxxo gehen wohl auch ihren täglichen Geschäften anderorts nach und so kommt eines zum anderen. Jammet vermisst unsere ausgewogene Mischung und ich weiß, was er meint. Aber so ist das hier bei uns in Chernarus. Manche kommen, manche gehen. Manche brauchen etwas Abstand und kommen danach wieder. Andere sind Dauergäste. Hauptsache, ich weiß, dass es ihnen gut geht und sie überleben. Aber ich gebe zu, dass ich sie auch vermisse. Zumindest ist Ravini ein steter Fels in der Brandung. „Ravini ist echt cool!“, sagt Jammet. Ich bestätige und grinse: „Ja und der Wolfgang auch. Der ist auch cool.“ „Ja, ja, der auch“, pflichtet mir Jammet bei. Am Ende fülle ich noch meine Flasche am Brunnen auf und spreche mich mit Jammet ab. Heute möchte ich in Richtung Solnichniy gehen, allerdings ist Jammet dort schon längst vorbei. Daher beschließen wir, etwas ganz Neues zu machen. Naja nicht direkt neu… aber wir waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Insel namens Skalisty Island. Warum also nicht die Gelegenheit nutzen und ihr gemeinsam einen Besuch abstatten?
So renne ich also los zum vereinbarten Treffpunkt kurz vor der Insel, bis ich schließlich Jammet an der Küste sehe. Wir begrüßen uns nochmals persönlich und ich lege meinen zweiten Rucksack mit etwas Essen und Ausrüstung in ein Gebüsch. Mit einem Rucksack in der Hand schwimmt es sich schließlich schlecht. Von einer kleinen Küstennase aus steigen wir ins kalte Nass. Ein Zucken durchführt mich, als das Wasser meine Schuhe und Kleidung immer mehr umspült, bis ich schließlich ganz im dunklen Nass laden. Jammet schwimmt vor und ich versuche ihm zu folgen. Das gleichmäßige Plätschern und Rauschen des Wassers dringt in mein Ohr, als ich stumpf meine Schwimmzüge vollführe. Leider ist meine Ausdauer schnell erschöpft und ich muss mit meinen Kräften gut haushalten. Ich bin daher etwas langsamer als Jammet. So anstrengend das Schwimmen auch ist, irgendwie ermüdet es mich nicht nur körperlich, sondern auch innerlich. Immer die gleiche Bewegung und das Bild der Insel vor mir, die nur unsagbar langsam näherkommt. Was tut mein Geist in solchen Situationen? Er wandert. Ich denke an die alten Zeiten zurück, als wir das erste Mal als Samariter von Chernarus auf der Insel Fuß gesetzt haben. Damals… das muss so 2017 gewesen sein. Das Klima war so rau, dass wir uns am anderen Ende erst einmal mit einem Lagerfeuer aufwärmen mussten, sonst wären wir wohl erfroren. Wir hatten sogar eine Zeit lang am Brunnen auf dieser Insel ein Zelt aufgebaut und so quasi einen Vorläufer unsers Bambi-Auffanglagers dort platziert. Tja und dann bleibt mein Verstand bei dem verhängnisvollen 20. September 2017 stehen. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, als wir auf den selbsternannten „King of Kamyshovo“ trafen. Ich hatte ja schon vor einiger Zeit in meinem Tagebuch angekündigt, mal über ihn zu schreiben und jetzt ist ein guter Zeitpunkt.
Es war ein wunderschöner, sonniger Tag auf der Insel. Jammet, Opi, Kanu und ich hatten Position bezogen, um Bambis, die es eventuell auf die Insel verschlägt, zu versorgen. Ich weiß noch, dass ich zu Beginn der Mission im Funkkanal sagte, dass man nie wissen könne, was so passieren wird. Wie recht ich damit haben sollte! „Mama sagt, das Leben ist wie eine Schachtel Patronen. Man weiß nie, welche dich… trifft“, sagte Jammet noch scherzhaft und da passierte es. Kaum hatte Kanu den Hochstand erreicht, um dort nach Kleidung zu suchen, da rief Opi von seinem Beobachtungsposten: „Da läuft ein Bambi! Unterhalb vom Hochstand. Direkt unterhalb vom Hochstand!“. Achja, das waren noch Zeiten! Präzise Ortsangaben und klare Ansagen. Natürlich stieg Kanu sofort ab und hielt ebenfalls Ausschau. „Er kommt hoch jetzt. Der guckt. Der guckt! Genau, der ist jetzt vor dir“, gab Opi weiter Anweisungen.
Tja und tatsächlich kam Kanu vor einem fremden Überlebenden in typischer Bambi-Kleidung zum Stehen. Kanu grüßte ihn natürlich sofort freundlich, ging aber instinktiv auf etwas Abstand: „Hello, friendly!“ Der Fremde erwiderte den Gruß ebenfalls und begann zu fragen: „Why are you..why are you…?“, wurde dann aber von Kanu unterbrochen. „Who are you?“, wollte dieser nun gutgelaunt von seinem Gegenüber wissen. „I… I am… I am… I am the King of uh…Kamyshovo“ gab dieser zögernd durch. Kanu lachte und auch wir im Funkkanal konnten nicht an uns halten, als wir das Gespräch mithörten. „King of Kamyshovo?“, fragte Kanu sicherheitshalber nach, „Oh! Nice to meet you.“ Der Fremde versuchte etwas in Erfahrung zu bringen bezüglich Elektrozavodsk und zeigte in die Richtung des Festlandes, aber so ganz konnte Kanu ihn nicht verstehen. Er hatte einen seltsamen Einschlag, möglicherweise kam er sogar aus Frankreich. Kanu interpretierte das Gesagte jedoch so, dass dieser wohl dort gerade einen Kampf gehabt haben musste. Allerdings wollte der selbsternannte König von Kamyshovo wohl lediglich wissen, warum Kanu nicht auch dort sei und um gute Beute kämpfte. Dazu m uss man wissen, dass in früheren Zeiten die Orte Chernogorsk und Elektrozavodsk besonders hart umkämpft worden waren und wir daher auch lieber einen großen Bogen um diese Großstädte gemacht hatten. Allerdings setzte Kanu im Gespräch dann gleich zu seinem kleinen Willkommensvortrag an, denn er gehörte ja schließlich an diesem Tag zum „Welcome-Team“, also das Team, das die Fremden ansprach und zum Brunnen bzw. Lager führte. Opi und Jammet waren eher die Scouts und das Backup, während ich mich direkt am Brunnen um die Versorgungsgüter und die Felder kümmerte. So hatte jeder seine Aufgabe und Kanu nahm sie, wie immer, sehr ernst. „Well, we are a group here on this island. We are calling ourselved the Samaritans. We can give you food and clothes and such things.“ Tja und während Kanu dies sagte, stürmte ich ebenfalls in Sichtweite des Fremden und grüßte freundlich. „Can you come with us to the well down there?“, fragte Kanu noch. Ich ergänzte: „We got food and other stuff.“ Der selbsternannte König wirklich sehr erfreut und traute seinen Ohren kaum. „Oh my God! You guys are the UN! You’re a nice guy. I am the King of Kamyshovo! Ha Ha!“, rief er und rannte mit Kanu und mir gemeinsam den Hang hinunter in Richtung des Brunnens. Rückblickend betrachtet dachte er vermutlich, wir hätten dort unten eine Falle aufgestellt, denn erfahrungsgemäß konnten es die meisten Überlebenden damals erst einmal kaum glauben, dass es wirklich eine Gruppe gab, die uneigennützig anderen half. Trotzdem oder gerade deswegen stürmte er lachend weiter den Hang hinab. Kanu versuchte noch zu erklären: „Yeah, we are trying distance ourselves from all this kill on sight stuff which is currently taking place here. We like to meet nice people like you and as you can see here, my wife has done some farming and you can take everything that’s on the ground.“
Der Fremde war weiterhin begeistert und fragte nach einem Rucksack. Das war mein Fachgebiet! Schnell hatte ich ein paar Stocke gesammelt und aus einem kleinen Jutebeutel einen improvisierten Rucksack gebastelt, den ich ihm stolz überreichte: „A brand-new backback comming up!“ „Thank you guys! That’s very nice of you“, bedankte er sich artig. Meine bessere Hälfte wollte noch wissen, ob unser Gast weitere Freunde hier hatte. „No… they are all dead“, antwortete dieser kalt und ließ den Kopf sinken. Wir bekundeten ihm unser Beileid, während Opi insgeheim etwas Gewissensbisse bekam. Nicht, dass seine Freunde zu den Leuten gehört hatten, die er am Tag zuvor hatte erschießen müssen. Aber wie hoch waren die Chancen dafür? Nicht sehr hoch in den damaligen Zeiten. Wir zeigten ihm noch kurz die Insel und kamen an Jammets Aussichtspunkt, dem Leuchtturm auf der Insel vorbei. Da der Fremde auch eine Lederweste benötigte, kamen sie aber schließlich zurück zum Brunnen. Dort fiel der selbsternannte König vor mir auf die Knie und frage übertrieben höflich: „I was gonna ask you if you could make me a leather armor, maybe? Maybe? Maybe? Maybe? Währenddessen war er aber auch sehr darauf bedacht, einen Sicherheitsabstand zu uns einzuhalten. Ich hatte zwar kein Problem damit, allerdings fehlte mir etwas Leder und so bot ich ihm an, stattdessen eine Hose zu machen. Ja, auch das war früher alles möglich, doch das Wissen so etwas zu fertigen ging über die Jahre leider verloren. „Oh yeah! Jackpot! I would love that“, freute sich der Fremde, als ich Nadel und Faden in die Hand nahm und meine Arbeit begann. Als Gegenleistung bot er Kanu an, ihm Mosin-Munition zu geben. Er legte sie auf den Boden und sagte Kanu, er könne sie nehmen. Ich überreichte ihm die Hose und Kanu ging auf die Munition zu. „You are welcome!“, sagte der Fremde noch, doch ich sah zu spät, wie er einen spitzen Stock anhob und damit direkt auf Kanu einstach. „Oh, er greift an! ER GREIFT AN!“, rief mein Geliebter noch vor Schmerzen und ich begriff zunächst gar nicht, was los war. Schon ging Kanu bewusstlos zu Boden, denn der Stock hatte ihn sehr ungünstig getroffen. Auch nach mir schlug er einmal mit dem Stock, traf aber nur das Bein. Doch sofort durchzog auch ein so heftiger Schmerz meinen Körper, dass ich auf dem Boden lag, allerdings noch bei vollem Bewusstsein. So musste ich mitansehen, wie er Kanu durchsuchte und seine Waffe an sich nahm, mit der er gleich auf mich aus nächster Nähe schießen wollte. „Das war es dann wohl…“, ging es mir noch durch den Kopf.
Dann zwei Schüsse, zeitlich versetzt. Doch die beiden Schüsse, die ich hörte, kamen nicht von dem Fremden, sondern von Opi und Jammet, die unseren Hilferuf sofort gehört hatten. Zwar wurde der Angreifer nicht ausgeschaltet, aber er musste sich zurückziehen und ich versuchte unter Schmerzen in blinder Wut und Trauer hinter dem Haus in Sicherheit zu robben. Er versuchte mich noch zu treffen, aber ich schaffte es mit letzter Kraft, mich in einen kleinen Schuppen zurückzuziehen. Dort versuchte ich erst einmal einen klaren Kopf zu bekommen. „Scheiße, was mach ich denn?!“, fluchte ich innerlich und verband meine Wunden. Dann die Meldung von Opi: „Ich hab ihn getroffen!“ Auch Jammet gibt an, dass er ihn getroffen habe. „Nur, wo ist er hin?“, wollte mein Freund nun wissen. „Zwischen den Häusern“, vermutete Opi. „Jemand muss auf die Rückseite von den Häusern gehen!“, bellte Jammet. Ich fing wieder an klarer zu denken. Allerdings war das Glück nicht auf meiner Seite, denn nun kam ein Zombie mitten auf mich zu, der von den Schüssen angelockt worden war. Diese Viecher kamen wirklich immer zum ungünstigsten Moment. Ich schnappte meine AK und schaltete den Zombie aus. Dann rannte ich so gut es eben mit einem verletzten Bein ging hinter das Haus. Nur ein Gedanke: Rache für Kanu und Gerechtigkeit gegen so ein falsches Spiel! Jammet versuchte ihn zu flankieren und ich wollte nur eines. „Wo ist der Kerl?!“, grummelte ich. „Irgendwo bei den Häusern vermutlich“, antwortete Opi. „Du meinst also, der lebt noch?“, wollte ich sicherheitshalber wissen. „Was heißt hier lebt noch? Ich kann dir eigentlich Brief und Siegel darauf geben, dass der noch irgendwo liegt und darauf wartet, dass du ihm den Rest gibst.“ Okay, gut. Keine schönen Aussichten, denn eigentlich war ich hier um zu helfen, aber nicht in so einer Situation! Der Kerl hatte immerhin hatte er uns schamlos ausgenutzt und hinterhältig angegriffen sowie Kanu getötet und mich verletzt. Der Typ verdiente es nicht besser! Leider musste ich es weiter mit einigen Zombies aufnehmen und es fehlte jede Spur von dem Fremden. Ich schoss auf die Zombies, lief ums Haus und suchte den Kerl, der hier irgendwo noch liegen musste. Opis Stimme ermahnte mich: „Zick Zack, Herz! Zick Zack!“ „Ja, ja…“, bestätigte ich. Als ob ich das vergessen würde.
Ich rannte weiter um das Haus, der Weg nun mit Kanus Leiche und denen zahlreicher Zombies gepflastert und natürlich hatte ich noch weitere im Schlepptau. Falls der Typ noch lebte, hätten die Zombies ihn sicherlich auch angegriffen. Daher ging ich davon aus, dass er wohl tot war. Tatsächlich sah ich im Vorbeirennen dann auch einen Körper und fühlte mich bestätigt. Jammet seufzte erleichtert auf, ich erschoss meinen letzten untoten Verfolger und Opi verkündete stolz: „Ich hab direkt geschossen, als er zugeschlagen hat. Direkt! Der hat zwei Hits sogar abgekommen, ey!“ Also hatte Opi ihn zweimal getroffen? Und auch von Jammet? Der arme Teufel konnte einem schon fast leidtun. Vorsichtig schlich ich mich näher an seinen leblosen Körper. Vielleicht auch, um noch etwas über ihn herauszufinden. Wer war er wirklich und warum hatte er das getan? Aber… was war das?! Der Körper bewegte sich noch. Er hatte einen regelmäßigen Puls. Verdammt, der lebte ja doch noch! Tja und nun kam ich das erste Mal in die Situation, in der ich eine solche Entscheidung treffen musste. Sollte ich ihn hier an Ort und Stelle einfach abknallen und der Gerechtigkeit gefühlt genüge tun? Es wäre ein Leichtes. Oder? „Na dann kill ihn. Headshot!“, forderte mich Opi auf. Aber dann flüsterte eine innere Stimme: „Nein, nicht so. Nimm ihn gefangen. Nimm ihm alles ab.“ Auch unser Beobachter korrigierte nun seine Einschätzung. „Okay, dann nimm ihm alles ab. Nimm ihn gefangen und warte, bis Jammet kommt.“ Letzterer war wohl schon unterwegs. Allerdings hatte er wohl vor lauter Aufregung unterwegs sein Gewehr verloren und wertvolle Zeit verloren. Er hasste diese Momente, aber damals passierten sie uns wirklich häufig, auch wenn es heute komisch und unverständlich klingt. Aber Waffen konnten einfach so verschwinden und musste dann erst wieder gesucht werden. Ein Glück, dass wir nun im Heute leben… Wo war ich? Achja. Ich fesselte ihn, nahm ihm alles ab und versuchte ihn wiederzubeleben, allerdings wachte er auf. Schnell erhob er sich, die Arme auf dem Rücken gefesselt. Schnurstracks lief er in Richtung des Meeres, das ihn beinahe zu rufen schien. Ich rief ihm noch mehrmals den Tränen nahe hinterher, warum er das alles getan habe und forderte ihn auf stehen zu bleiben und es mir zu erklären. Aber er reagierte nicht und lief unbeirrt weiter.
„Er haut ab, er haut ab!“, gab ich per Funk durch. Jammet war schier verzweifelt, da er nicht vor Ort sein konnte und keine Ahnung hatte, wo sich der Fremde nun befand. Aber für mich war die Sache nun klar, meine wirren Gedanken lichteten sich. Der selbsternannte König von Kamyshovo, ein feiger Heuchler und betrügerischer Mörder wollte einfach nur entkommen. Auf die eine oder andere Art. Ein letztes Mal beweisen, dass wir nichts gegen ihn ausrichten können. Dass das Böse immer triumphieren würde, weil das Gute zu blöde wäre. Und dies war der eine Moment, in dem ich zum ersten und bisher einzigen Mal bewusst dieser inneren Stimme nachgab und abdrückte. Ich drückte ab, mit dem klaren Ziel, mein Gegenüber zu töten. Nicht, ihn zu verletzten. Nicht, um ihn später zurückzuholen und zu verschonen. Nein, er sollte hier nicht mehr Fuß fassen können und für seine Verbrechen bezahlen. An Ort und Stelle. Ich schoss. „So ein Drecksack…“, murmelte ich und versuchte mich noch vor der Gruppe zu rechtfertigen, warum ausgerechnet ich auf einen unbewaffneten, gefesselten Mann geschossen hatte. Kein ehrenwertes Handeln, das gebe ich zu. Trotzdem erzähle ich die Geschichte inzwischen ohne Schuldgefühle, denn sie hat uns und vor allem auch mich vieles gelehrt, das für die kommenden Jahre wichtig wurde. Wir sind hier, um Menschlichkeit in diese unmenschlichen Zeiten zu tragen. Doch leider gibt es auch eine dunkle Seite von Menschlichkeit, die ich allzu gerne verdränge. Aber ich weiß, dass sie in mir ist und ich habe gelernt, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Allerdings ist es seither nie wieder vorgekommen, dass ich mit einer derartigen Lust und Abscheu vor dem Leben einmal anderen Überlebenden das Leben genommen hätte und ich werde alles daran setzen, dass dies auch nie wieder der Fall sein wird. Auch wenn ich durch den ein oder anderen Vorfall persönlich Schuld auf mich geladen habe, wie die Sache mit Blue, so bin ich doch in der Lage, mir zu verzeihen und vor allem zum Schutze aller anderen zu handeln und immer vorsichtig zu sein. Dies hat mich der selbsternannte König von Kamyshovo gelehrt.
Jammets gleichmäßiger Atem und sein Hinweis, dass wir nun bald an der Küste sind, lässt mich aus meiner Gedankenwelt auftauchen. „Gut, dass es hier weder Haie noch Schlachterfische gibt!“, scherze ich unter meinen gleichmäßigen Schwimmzügen. Ich glaube, sollte ich meine Tagebücher wirklich mal als echtes Buch veröffentlichen, dann würde ich den zweiten Band „Herz der Küste“ oder „Herz des Südens“ nennen, da wir ja immer an der Küste unterwegs sind. Ja, das ist eine gute Idee.
Etwas später kommen wir vollkommen durchnässt an der Insel an, trocknen uns aber mithilfe einer Fackel unglaublich schnell und erkunden die Insel. Vieles hat sich nicht verändert und wir unterhalten uns noch lange über die Geschichte mit dem King of Kamyshovo, ehe wir einen provisorischen Unterstand am Brunnen bauen, gefühlt fünfzig GPS-Geräte in das Zelt packen, die wir alle auf der Insel gefunden haben und auch noch etwas zu Essen einlagern. Vielleicht findet ja jemand seinen Weg hierher und freut sich an dem Unterstand. Anschließend möchten wir gerade aufbrechen, da kommen einige Zombies auf uns zu. Wir trauen unseren Augen nicht. Ein Zombie von ihnen hat wahrhaftig ein Steinmesser in der Hand und schlägt damit nach Jammet. Er ist total perplex und auch ich bin baff. Das ist neu… Zombies nutzen sonst immer ihre Fäuste. Was kommt als Nächstes? Militärzombies mit einer AK? Zum Glück ist er nur eine Ausnahme und wir haben bald die Bande erledigt. Müde und erschöpft verbringen wir die Nacht auf der Insel, ehe wir am kommenden Morgen wieder zur Küste aufbrechen. Dieses Mal fällt mir das Schwimmen leichter und im Busch wartet mein Rucksack noch unangetastet auf mich. Schließlich begeben wir uns in einem kleinen Dörfchen zur Ruhe. Am folgenden Tag möchte ich nach Nizhnoye zurück.