Unbekanntes Datum – Solnichniy
Das große Finale (6) – Auf dem Seeweg nach Hause

"When I get tired of fightin'
All of the fears I’ve been hidin'
You gave me Your breath and tell me to rest
You never left
I can, I can, I can hear You callin' me by name
Pullin' me out from under my shame
Never be the same, I can face anything
So let it rain."
Ängstlich starre ich die unheimliche Kürbisfratze in der Ferne an. Ich versuche kaum zu atmen, damit sie mich nicht sieht und schlage mich instinktiv in einen Busch. Da holt mich Smokey Eyes ' Stimme leise zurück aus meiner Schockstarre. „Der Kürbis gehört zu uns, Herz-Aus-Gold. Keine Angst!“, ruft sie mir sanft, aber bestimmt zu, als hätte sie meine Gedanken erraten. Das beruhigt mich etwas, aber ich bleibe verständlicherweise skeptisch. „Wirklich?“, frage ich unsicher und trete vorsichtig ich aus meinem Versteck, mein Körper immer noch angespannt und bereit, erneut in Deckung zu gehen, sollte es nötig werden. Bisher kenne ich solche Kürbismasken immer nur von diesen Hallowenn-Zombies, die es momentan zu Hauf gibt, aber steckt hinter dieser hier wirklich ein Freund und kein Feind? Was, wenn es doch eine Falle ist? Ich möchte meine Freiheit nicht schon wieder verlieren! Aber ich vertraue Smokeys Urteil und wir gehen weiter, Schritt für Schritt, direkt auf die unheimliche Gestalt zu.
Meine Hände zittern, mein Körper ist voller Adrenalin. Ich bin bereit zum Kampf oder zur Flucht. Doch als wir näherkommen, höre ich auf einmal eine vertraute Stimme hinter der Maske: Sie klingt dumpf und entfernt, aber ich würde sie überall wiedererkennen. „Hallöchen!“, ruft sie mir freudig entgegen mit einer Unbeschwertheit, wie sie nur eine Person in meinem Freundeskreis zeigen kann. Mein Herz jubelt vor Erleichterung. Kein Zweifel möglich. Ich kann nicht anders – ich stürme auf die Gestalt zu und umarme sie vor Glück. Hikaru ! „Hikaru!“, Tränen strömen über mein Gesicht, während ich schluchzend immer wieder ihren Namen wiederhole, „Hikaru! Du bist hier! Du bist wirklich hier!“ Meine Worte brechen immer wieder ab, verschluckt von der Flut an Gefühlen. Der Gedanke, sie hier zu sehen, unversehrt und lebendig, ist wie ein Traum. Jetzt weiß ich wirklich, dass das alles in Novodimitrovsk ein Spiel der Entführer war. Hikaru war nie in ihrer Gewalt, nie in Gefahr und sie ist wohl auf. Und was noch wichtiger ist: Sie ist gekommen, um mich nach Hause zu holen. „Hi Herz, willkommen zurück!“, sagt sie mit einem Lächeln, das selbst durch die gruselige Maske hindurch spürbar ist. „Lass uns dich jetzt nach Hause bringen!“ Ihre Worte sind so einfach, als sei es nichts. Aber sie bewegen mich tief. Oh ja.. Zuhause. Endlich!
Langsam sammle ich mich wieder, wische die Tränen weg, während ich Smokey und BloodBlaze einen dankbaren Blick zuwerfe. Gemeinsam mit Hikaru schmieden wir einen Plan. Sie hat eine Zündkerze dabei, die für uns momentan unendlich wertvoll ist. „Auf nach Kamyshovo“, schlage ich vor. „Wir finden dort bei der Urlaubsinsel ein Boot, setzen die Zündkerze ein und dann geht’s nach Prigorodki!“ Meine Begleiter nicken, voller Hoffnung, aber auch mit einer leichten Unsicherheit. Der Küstenweg ist riskant. Sollten wir nicht lieber den Wald nehmen? Diese Gedanken schiebe ich vorerst beiseite. Die Entscheidung wird spontan fallen müssen, je nachdem, was uns unterwegs begegnet.
Während wir uns durch die Nacht bewegen, berichtet Hikaru mir, was während meiner Gefangenschaft geschehen ist. Sie erzählt von der Einsatzleitung, die alles koordiniert, um mich zu finden und zu retten. Es ist kein Geringerer als Black Lion , mein schwarzer Löwe. Er ist derjenige, der diese „Operation“ leitet. Mein Herz schlägt schneller, und ich muss mich anstrengen, die Tränen zurückzuhalten. Nicht schon wieder weinen! Konzentrier dich.
Er hat es also wirklich getan. Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich zu finden und einen Trupp aus Befreiern zusammengestellt, um mich da rauszuholen. Ich bin einfach überwältigt. Ich wusste immer, dass er stark ist, aber das hier übertrifft jede meiner Vorstellungen… wie konnte ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln, dass sie mich finden und retten würden? Die Vorstellung, meinen schwarzen Löwen bald wiederzusehen, gibt mir neue Kraft, und ich kämpfe mich mit meinen Begleitern weiter durch die nachlassende Dunkelheit.
Die kleine Insel gegenüber von Skalisty Island, wo meine Entführer mit mir – vermutlich vor einigen Tagen – mitten in der Nacht Rast gemacht hatten, kommt in Sicht. Ich flehe innerlich, dass wir hier ein Boot finden mögen. Doch der Strand ist leer. Enttäuschung macht sich breit, aber wir arbeiten uns uns weiter durch das Gelände vor, immer wieder pausierend, um uns zu verstecken oder Vorräte zu teilen. Hunger und Durst nagt an uns allen, aber ich habe während der letzten Wochen gelernt zu verzichten und teile alles, was ich noch haben. Meine Kräfte schwinden, doch ich weiß, dass wir bald da sein werden. Ich weiß, dass wir nur zusammen eine Chance haben.
Langsam erhebt sich die Sonne über Chernraus, als plötzlich das Knattern eines Bootsmotors den Morgen durchbricht. Wir bleiben stehen, suchen Schutz. Freund oder Feind? Ich halte den Atem an, bis ich die vertraute Stimme von NiggoB höre: „Herz, magst du mitfahren?“ Und ob, Niggo! Und ob!
Die Erleichterung steht mir vermutlich mal wieder aufs Gesicht geschrieben. „Niggo!“, rufe ich, während ich auf das Boot zulaufe. Neben ihm sitzt janinesta , die treue Seele ist wie immer an seiner Seite. Durch dick und dünn. Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen. „Mann, bin ich froh, euch zu sehen!“ Wir machen uns daran, ins Boot zru steigen, aber schnell wird klar, dass nicht alle meiner Begleiter auch einen Platz finden werden. Ich sehe Smokey und Bloody an. Mein Herz zieht sich zusammen. Sie haben mich so weit gebracht, und nun müssen wir uns trennen? Hikaru überreicht ihnen ihre Zündkerze und gibt Anweisungen, wie sie das Boot auf der „Urlaubsinsel“ vor Kamyshovo wieder flottmachen können.
Dann startet Niggo den Motor. „Bis gleich, Freunde!“, ruft er ihnen noch hinterher und ich ergänze: „Viel Erfolg! Ich danke euch!“ Es bricht mir das Herz, sie zurückzulassen, doch ich vertraue darauf, dass sie sicher ankommen werden.
Mit Niggo, seiner Freundin und Hikaru an meiner Seite gleitet das Boot durch die dunklen Wellen. Der Wind peitscht mir ins Gesicht, doch ich fühle eine nie gekannte Freiheit. Kein Käfig, keine Bewacher, keine Angst – nur die offene See und die Hoffnung, dass heute alles gut enden wird. „Danke… danke euch beiden“, sage ich, meine Stimme leise, doch erfüllt von tiefster Dankbarkeit.
Während wir unsere Reise fortsetzen, ahne ich nicht, welches perfide Spiel sich zeitgleich in der Polizeistation von Chernogorsk abspielt. Der Asiate hat sich tatsächlich in eine rote Sanitäterkleidung gezwängt und versucht, sich als mich auszugeben. Sein Plan? Meine Befreier täuschen und in eine Falle locken.
„Hier ist Herz-aus-Gold“, tönt seine Stimme durch eine Tür. „Seid ihr Befreier oder Entführer?“ Seine Worte sind perfekt einstudiert, seine Stimme zittert vor gespielter Angst. Doch einer meiner Befreier, den er täuschen will, bleibt misstrauisch. „Das könnte jeder sagen!“, entgegnet er trocken. Ein nervöses Lachen des falschen Herz folgt, doch der Druck der Situation lässt die Fassade bröckeln. Es entwickelt sich ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel. Der Asiate versucht alles, um glaubwürdig zu erscheinen und meine Befreier in einen Hinterhalt zu lpcken, doch sie sind nicht leicht zu täuschen.
Im Hintergrund höre ich später von der Einsatzleitung, dass der Asiate irgendwann tatsächlich zur Waffe greift und das Feuer eröffnet. Er erwischt einige meiner Befreier aus dem Hinterhalt. Am Ende wird er aber selbst überrascht – von einem „meiner“ Bambis, das ihn überwältigt. Welch Ironie des Schicksals. Und so findet sich der Asiate an diesem Abend selbst an der Küste wieder und hat nur ein Ziel: Prigorodki. Dort wird er versuchen, das Blatt noch einmal zu wenden.
Doch von all dem ahne ich nichts, als ich mit Niggo, Selina und Hikaru immer weiter in Richtung Elektrozavodsk vorstoße.