03.07.2023 – Nachtrag III
Umgeben vom fröhlichen Gezwitscher der Vögel und dem romantischen Rauschen der Bäume erkunde ich erneut die Umgebung. Alles fühlt sich so falsch an. Es ist ruhig und friedlich, obwohl dies noch vor wenigen Minuten der Schauplatz einer Tragödie gewesen ist.
Mit behutsamen Schritten nähere ich mich meinem gefallenen Kameraden. Die Sorge, selbst einem tödlichen Schuss zum Opfer zu fallen, begleitet mich mit jedem Schritt, doch der gefürchtete Angriff bleibt aus. Wolfgang, Shizo und Henrik sind sich sicher, dass der Täter erneut zuschlagen wird, was mich nicht sehr erbaut.
Die Frage, ob ich auf einen Fremden schießen würde, wirft für mich ein moralisches Dilemma auf. Wolfgang löst es schnell für sich: „Alle Überlebenden sind schuldig!“, mahnt er mit tiefer Stimme und wiederholt sein Credo. Vielleicht hat er Recht?
Als ich mich dem leblosen Körper nähere, breitet sich eine paradoxe Szenerie aus. Nach außen hin ist es hier ruhig und friedlich, aber inmitten des Waldes starre ich auf einen Teppich des Entsetzens. Der Täter war gründlich, äußerst gründlich. Er hat sein Opfer, meinen Freund und Kollegen, fachgerecht zerlegt, und ich unterdrücke nur mit viel Willenskraft einen Würgereiz. Ganz ruhig… einatmen, ausatmen.
„Ist doch eigentlich ziemlich fair von ihm...“, kommentiert jemand aus der Gruppe. War das Shizo oder Henrik? Die Relativierung folgt sogleich: „…dann despawnen wenigstens die Sachen nicht.“ Die Diskussion über das "fair sein" angesichts eines brutalen Mordes verstört mich zwar, doch in Chernarus ist eine solche Überlegung für viele Alltag. Ich grübele.
Das ist eine Eigenart von Chernarus und der rauen Welt, in der wir leben: Bist du tot, dann verschwindet dein Körper einfach nach einer gewissen Zeit, samt all deinem Hab und Gut. Alles ist dann unwiederbringlich verloren, sofern du es nicht innerhalb der Frist zurückschaffst. Wir nennen diesen Prozess des Verschwindens „despawnen“. Vielleicht ist das die Art und Weise, wie das große Universum hier in dieser Welt die Ordnung erhält. Wir haben uns daran gewöhnt. Jedenfalls verschwinden die Sachen langsamer, wenn die Leiche nicht mehr…intakt ist. Es ist grotesk, sich über solche Dinge Gedanken zu machen, aber so sehr es mir widerstrebt, eigentlich hat mein Gegenüber recht. Eigentlich. Denn wenn der Mörder wirklich hätte fair sein wollen, hätte er in erster Linie nicht heimtückisch agiert und nicht schießen brauchen. Zweitens hätte er Jahsans Sachen auch einfach auf den Boden werfen können. Dass das natürlich mehr Zeit beansprucht…geschenkt. Wer fair sein will, muss leiden. S’lässt sich leider nicht vermeiden…Abgesehen davon, hat der Täter bereits die meisten brauchbaren Dinge von Jahsan mitgenommen, was diese „nette“ und „faire“ Geste wieder total unnütz macht und mich erneut mit Zorn und Trauer füllt. Ich hasse es, wenn jemand auf den ersten Blick fadenscheinige Gründe vorschiebt, um sich mies benehmen zu können. Solche Doppelmoral nach dem Motto: „Ich hab doch nur…“ kann mir gestohlen bleiben. Aber meine Aufregung und Wut bringt keinen von uns weiter und möglicherweise wollte mich mein Gegenüber nur aufmuntern und das Positive angesichts der Tragödie aufzeigen. Jahsan bringt das alles nicht zurück. Frustriert beschließe ich, meinen Groll in etwas Sinnvolles zu verwandeln und beginne damit, Jahsans Sachen zu sichten und den grausamen Anblick zu beseitigen.
„Also ich würde nur mal auf gut Glück durch die umliegenden Büsche gehen und so. Falls der das da hingeschmissen hat…“, beginnt Shizo mit freundschaflichtem Rat. Ich beschließe ihn zu beherzigen und mir die Umgebung genauer anzusehen, sobald ich hier Ordnung ins Chaos gebracht habe. Nach ein paar Blicken wird klar. Jahsans Waffe fehlt sowie sein Gürtel und …die Nägel! Der Frechdachs hat die Nägel mitgenommen! „Gut, das hätte ich wahrscheinlich auch gemacht“, spricht Henrik vermutlichen vielen aus der Seele. Sonst hatte Jahsan nicht viel Wertvolles dabei. „Am Ende war’s Whoomba“, grinst David verschwörerisch in die Runde, als dieser just in dem Moment unserem Funkkanal beitritt. Etwas mehr Einfühlungsvermögen seinerseits wäre schon nett gewesen, aber ich vermute mal, er möchte die Stimmung einfach etwas aufheitern. Nicht für eine Sekunde würde ich glauben, dass es Whoomba gewesen ist. Oder etwa doch? „Tja der kommt jetzt auch so verdächtig hier rein…“, spielen Shizo oder Henrik mit und ich lasse mich auch zu einem verschwörerischen „Ja, das könnte natürlich sein...“ hinreißen, das eine Spur zu euphorisch klingt. Aber ich bin mir nicht sicher, was ich wirklich denken soll. „Whoomba, die wandelnde Unschuldsvermutung“, beginnt Shizo anklagend. „Ja! Worum geht’s denn?“, fragt der Beschuldige zur Begrüßung. Ich erkläre ihm kurz die Lage und bin selbst überrascht, wie schnell ich innerlich Distanz zu dem Vorfall aufbauen konnte und wie sachlich ich ihm alles schildern kann. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es schon komisch, dass er nichts weiter dazu sagt, aber gut, es ist eben unser Whoomba. Was erwarte ich? Beileidsbekundungen und aufmunternde Worte? Ich gehöre zu den Samaritern von Chernarus. Gefahr ist unser Geschäft… es wird Zeit, dass ich mich damit abfinde.
Statt in der Vergangenheit zu verweilen, fragt Whoomba nach Neuigkeiten über die Balz-Bubis, aber noch gibt es nach wie vor nichts Konkretes. Während Shizo Dani weiter beim Bauen seiner Basis hilft, räume ich alles weg und wundere mich, dass Henrik sich noch genauer über die Waffe des Täters erkundigt. Vielleicht hat der Täter seine Waffe ja aus einer Polizeistation? So jedenfalls seine Vermutung. Am Ende ist es aber doch egal, woher die Waffe kam. Tot ist tot und Gelegenheiten gibt es viele. Ich bestatte Jahsans Überreste in seiner Uniform im Meer, gedenke meines Freundes und mache mich dann wieder an die Arbeit. Sorgfältig prüfe ich das Samariter-Haus, doch es ist noch unberührt. Hier wollte der Täter also nicht rein. Das nenne ich mal Glück im Unglück, denn ich hatte noch nicht alle Seiten gesichert. Dummerweise fehlen uns aber nun die Nägel. Das ist ein Problem, um das wir uns auf jeden Fall noch kümmern müssen.
Henrik erklärt Whoomba, noch nebenbei, dass er seine Basis im Süden auf dem Hochhaus nun wieder allein bezogen hat, da ja Shizo und David ein gemeinsames Bauprojekt angehen. Ich beschließe, die Ruhe nach dem Sturm zu nutzen, um ein anderes Problem anzugehen und verabschiede mich vorerst von den Jungs.
Ich kontaktiere Satsuki: „Hi. Hast du gestern Abend zufällig auf ein Auto bei Chernogorsk geschossen?“, frage ich unverblümt. Mein Gegenüber schweigt zunächst, ringt sich dann aber zu einem "möglich" durch. Diese halbgaren Antworten kann ich nicht ausstehen, als ob er abwiegen würde, wie gefährlich es sei, die Wahrheit zu sagen. Möglicherweise liegt es an dem Vorfall in Solnichniy vorhin oder ich habe generell einen schlechten Tag, aber ich bin sauer und lasse ihn das auch spüren. „Aha", entgegne ich trocken, „das war echt fies... wir hatten doch unser Event!" Ich kann ihn förmlich vor mir sehen, wie er den Überraschten mimt: „Oh... das habe ich nicht mitbekommen. Sorry". Eine billige Ausrede… wir haben alle in den letzten Wochen unaufhörlich über Tabaskos Event und die Vorbereitungen gesprochen. Ich kann mich erinnern, so ziemlich jeden dazu eingeladen zu haben. Außerdem waren so viele Autos voller Bambis unterwegs, da hätte er sich seinen Teil einfach denken müssen und ich bin mir fast schon sicher, dass er das auch getan hat und überhaupt verstehe ich nicht, weshalb ich nun wieder anfange, meine Wut zu rechtfertigen. Er hat Mist gebaut, wissentlich.
„Aber sie haben mich ja erwischt", versucht er mich wieder zu beschwichtigen. Dummerweise lasse ich mich nun doch auf die Diskussion ein: „Ja, aber du hast mich erschossen… ein wehrloses kleines Bambi! Und ein Auto dabei geschrottet, das wir dringend fürs Event gebraucht hätten...", fahre ich fort, um ihm die Konsequenzen seiner Handlung deutlich zu machen. Aber warum? Er weiß das ohnehin und hat das mit voller Absicht gemacht, egal, was er nun sagt. Möglicherweise liegt es noch am Schock, aber ich kann mich leider gerade nicht so sehr in Rage reden, wie ich es gerne würde, obwohl ich deutliche Worte finde. Klar, wir kamen alle mehr oder weniger in der Nähe der Küste wieder an, aber diese Aktion hat uns wertvolle Zeit gekostet.
„Hoppla… ich dachte, da wäre nur der Kühler kaputt. Ich werde nie wieder schießen...", versucht er nun mich abzuwiegeln. Als ob…! Klar… war ja alles nur Spaß und so. Das Bild von Max und Kevin taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich habe es so satt der Spielball für andere zu sein!
„Pff, als ob!", erwiderte ich ärgerlich, aber noch immer weniger wütend, als ich eigentlich sein sollte. Ich fasse mich wieder. „Du hast Blue und mich getötet. Einfach so! Und Shizos Auto ist Schrott. Überleg dir was, um das wieder gut zu machen!" Die Konfrontation endet damit, dass er kommentarlos den Funkkanal verlässt.
Definitiv nicht meine Vorstellung von einem Spaß und einem klärenden Gespräch, aber nun habe ich wenigstens Gewissheit. Jetzt weiß ich jedenfalls, woran ich bei diesem Typen bin, und ich werde ihm nicht so schnell wieder vertrauen.
Die Begegnung mit Satsuki wirft Fragen über mein Vertrauen in Menschen auf. Vertraue ich zu schnell? Diese Episode hinterlässt ein mulmiges Gefühl, doch ich versuche, meinen Ärger in die Arbeit am Samariter-Haus zu kanalisieren. Jedenfalls gibt es einen kleinen Lichtblick: Die WG in Solnichniy wächst, und ich kann einige Kisten mit Essen beisteuern. Ein kleiner Trost inmitten der Herausforderungen von Chernarus. Blue, Hikaru, Jammet und Kanu werden sich sicher darüber freuen.