Jenseits der Stille
Es ist kalt.
Nicht die Art von Kälte, die in die Haut kriecht. Sondern die andere. Die, die sich von innen ausbreitet und sich nicht vertreiben lässt – nicht mit Feuer, nicht mit einem Wärmekissen, nicht mit Berührungen.
Ich sitze hier und frage mich, wie ich an diesen Punkt gekommen bin.
Nicht heute. Nicht jetzt.
Sondern damals. Vor langer Zeit.
Gab es jemals einen anderen Weg für mich? Oder war es unausweichlich, dass ich irgendwann hier lande? Vielleicht war es Schicksal. Vielleicht war es nur ein Zufall, den ich fälschlicherweise für Bestimmung halte.
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Mein Name ist Irena Zamenova.
Ich wurde in einem kleinen Dorf namens Pulkovo geboren. Ein Ort, den die meisten Menschen nicht kennen. Nur ein Punkt auf der Karte.
Mein Erzeuger war Landwirt. Meine Mutter verdiente sich als Schneiderin etwas hinzu. Wir hatten nie viel, aber es reichte.
Ich war ein stilles Kind. Nicht aus Schüchternheit, sondern aus Notwendigkeit. Ich lernte früh, dass leise Menschen nicht auffallen. Und wer nicht auffällt, wird nicht verletzt.
Ich erinnere mich an Feuerwerk in unserem kleinen Städtchen, an das Licht am Himmel, an das Knallen, an das Zittern in meiner Brust, wenn die Explosionen über mir zerplatzten.
Andere Kinder liebten es und staunten. Ich nicht.
Mir war es immer zu laut, zu unkontrolliert und zu gefährlich. Die anderen Kinder lachten mich aus, aber ich wusste, dass Lärm oft Gefahr bedeutete. Ich wusste es schon früh zuhause gelernt hatte.
Mein Erzeuger hatte eine laute Stimme.
Er trank nicht immer. Aber wenn er trank, wurde er laut.
Und je lauter er laut wurde, desto stiller wurde ich. Ich wusste, wo man sich am besten versteckt: Hinter Türen, unter Tischen, in Schränken...
Ich wurde richtig gut darin. So gut, dass ich manchmal glaubte, ich könnte einfach verschwinden und wenn ich nicht mehr da wäre, würde alles aufhören.
Aber das tat es nie.
Meine kleine zerbrochene Familie war ein Meister darin, unser Leben vor anderen zu verstecken. Nach außen war ich die brave, angepasste Irina. Aber im Inneren? Frag nicht.
Ich lernte früh, dass das Zuschlagen einer Tür schlimmer sein konnte als Worte und dass es besser war, nicht zu widersprechen. Am besten, ich sagte gar nichts.
Einfach nicken.
Still sein.
Nicht auffallen.
Dann war es für mich am sichersten.
So lebten wir, bis an jedem verhängnisvollen Tag.
Neujahr in Pulkovo. Ich erinnere mich nicht genau, wie alt ich war. Ich weiß allerdings noch, dass ich alt genug war, um zu wissen, was passieren würde. Nur war ich zu jung, um es aufzuhalten.
Draußen lachte das Dorf. Feuerwerk über Pulkovo. Bunte Lichter am Himmel, knallende Raketen und jede Menge Alkohol. An diesem Abend war es nicht das Feuerwerk, das mein Leben veränderte.
Es war „Vater“. Er hatte wieder einmal getrunken und zwar mehr als sonst.
Er schrie. Er tobte.
Ich versuchte, es zu ignorieren.
Wie immer.
Meine Mutter versuchte, ihn zu beruhigen.
Wie immer.
Ich saß im Wohnzimmer und hörte die Stimmen.
Wie immer.
Aber diesmal… war es anders.
Ein Knall.
Nicht draußen.
Drinnen.
Ein Teller flog gegen die Wand.
Dann ein zweiter Knall. Aufgebrachte Schritte.
Ein Schrei.
Dann – Stille.
Ich wusste, dass ich nicht hingehen sollte.
Aber ich tat es.
Ich trat in den Türrahmen.
Ich sah meine Mutter auf dem Boden liegen.
Sie atmete noch, aber ihre Augen waren voller Angst und aus ihrem Mund entwich ein verzweifeltes Wimmern.
Ich wollte helfen.
Dann sah ich ihn: Meinen Erzeuger.
Sein Blick war nicht wirr vom Alkohol. Nur voller Wut.
Er griff nach mir.
Und ich tat das einzige, was ich in der Situation tun konnte: Ich rannte.
Ab nach Draußen.
Die Lichter explodierten über mir.
Knall. Knall. Knall.
Um mich herum wogte die Menge. Menschen lachten, schrien, feierten. Ihre Stimmen vermischten sich zu einem einzigen, undefinierbaren Lärm, der über die Straßen rollte.
Ich spürte Hände, die mich aus Versehen berührten, als ich mich durch die Masse drängte. Arme, die hochgerissen wurden, um Gläser anzustoßen, Schultern, die im Rhythmus irgendeiner Musik zuckten.
Alles war Lärm. Alles war Bewegung.
Jemand versuchte mich am Arm zu packen, nicht fest, nur flüchtig. „Irina! Wo rennst du hin?“, fragte die vertraute Stimme. Aber ich hörte sie nicht.
Ich antwortete nicht und riss mich los, presste mich weiter durch die grölende Masse. Die Menschen lachten. Sie lachten so laut. Sie ahnten nicht, dass ich nicht wegen des Feuerwerks rannte.
Nicht wegen des Lichts am Himmel, sondern wegen dessen, was hinter mir war.
Oder vielleicht nur noch in meinem Kopf.
Ich wusste es nicht mehr.
Ich wusste nur, dass ich nicht stehen bleiben durfte.
Mein Herz raste, jeder Atemzug brannte in meiner Brust.
Aber ich lief weiter.
Bis der Lärm hinter mir leiser wurde.
Bis die Lichter der Feier verblassten.
Bis ich allein war.
Ich rannte, bis nichts mehr zu hören war außer meinem eigenen Atem. Ich versteckte mich im nahegelegenen Wald und versuchte unsichtbar zu sein. Ich kauerte mich in einem hohlen Baumstamm zusammen, unfähig das Erlebte zu erfassen. Über mir die grellen Lichter und die lauten Explosionen.
Irgendwann musste ich zurück und als ich ankam, war das Haus still.
Zu still.
Meine Mutter war fort. - Niemand wusste, wohin.
Mein Vater war fort. - Niemand suchte nach ihm.
Und ich? - Ich war auch fort.
Nicht körperlich.
Aber ein Teil von mir verschwand in dieser Nacht.
Ein Teil, den ich nie zurückbekommen habe.
Von diesem Tag an hasste ich Feuerwerk.
Nicht wegen der Farben.
Nicht wegen der Explosionen.
Sondern weil es bedeutete, dass Dinge außer Kontrolle gerieten.
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Als die Welt zusammenbrach, tat ich das, was ich immer getan hatte.
Ich machte mich klein und unsichtbar.
Ich war nie eine Kämpferin, aber ich überlebte, weil ich nicht gesehen wurde.
Ich sprach wenig und bewegte mich leise. Vertrauen fasste ich selten. Traue niemandem, alle lügen.
Ich wich großen Städten und lauten Menschen aus.
Ich wurde vergessen.
Und das hielt mich am Leben.
Bis jetzt.
Aber unsichtbar zu sein rettet einen nicht vor allem.
Manchmal muss man sich zeigen und manchmal wird man gefunden.
So wie jetzt. Und nun?
Jetzt kann ich mich nicht mehr verstecken.
Jetzt bin ich hier.
Und ich weiß nicht, ob es einen Unterschied macht.
Ob es jemals einen gemacht hat.
Ich sehe auf meine Hände.
Meine Finger sind ruhig.
Aber ich spüre die Kälte.
Nicht die in der Luft.
Die andere.
Die, die nie wirklich verschwunden ist.