Tag 2 - Der Weg durch die Stadt
Ich gehe langsam.
Wirklich langsam.
Nicht, weil ich will.
Mein Körper fühlt sich an, als wäre er aus nassem Stoff, schwer und unbrauchbar.
Das Fieber liegt wie ein Film auf meiner Haut, klebrig und warm, aber ohne Trost. Ich schwitze, obwohl ich friere.
Jede Bewegung kostet Kraft, und ich habe kaum noch welche übrig.
Der Weg durch das Industriegebiet zieht sich. Ich halte mich an bröckelnde Mauern, streife an rostigen Zäunen entlang.
Jeder Schritt ist eine Entscheidung.
Jeder Schatten ein möglicher Kontakt. Irgendwo in der Ferne höre ich ein Knacken. Holz? Metall? Vielleicht nur der Wind. Vielleicht auch nicht.
Ich taste mich weiter, wie ein Tier, das nicht auffallen will.
Wie früher, wenn Vater lärmte.
Laut hieß Gefahr.
Laut war Schmerz.
Ein Hof. Bewegung. Ich friere ein.
Drei, vier Infizierte? Vielleicht mehr.
Ich presse die Lippen zusammen, ziehe den Ärmel vors Gesicht. Kein Husten. Nicht jetzt.
Ich warte. Zähle innerlich. Langsam. Dann weiter. Leise. Rücken zur Wand. Augen bei den Schatten. Immer bei den Schatten.
Chernogorsk liegt vor mir wie etwas, das schlafen sollte, aber nicht schläft.
Viele Spuren. Verschlossene Türen, eine Basis. Fahnen, aufgestellte Fallen. Menschen leben hier.
Menschen, die nicht sind wie ich. Nicht leise. Nicht mit Blicken, die weichen.
Sie sind sichtbar.
Lärmend und präsent.
Ich halte Abstand.
Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich war nie jemand, der dazugehört hat.
Ich bleibe stehen, wenn ich etwas höre. Manchmal minutenlang. Nur horchen, nur da sein, ohne zu atmen.
Endlich, nach einigen Stunden finde ich das Krankenhaus.
Oder das, was davon übrig ist.
Die Tür hängt schief, das Fenster daneben fehlt. Es riecht nach Desinfektion, Metall und etwas, das alt ist.
Ich taste mich hinein. Nicht weil ich mutig bin, sonder nur weil ich unbedingt muss. Weil ich sonst vielleicht nicht mehr aufwache.
Ich durchsuche Regale, Kisten, zerknitterte Kartons.
Meine Finger zittern.
Meine Augen brennen.
Ich kann kaum lesen, was auf den Verpackungen steht. Aber ich suche weiter. Ich muss. Zwischen Mullbinden, aufgerissenen Schachteln und Verbandspäckchen finde ich sie: Zwei Blister mit kleinen Tabletten. Schwarzbraun. Tetracyclin. So, wie Herz sie beschrieben hat. Ich nehme einen Blister, stecke den anderen ein.
Für später.
Für den Fall, dass es nochmal schlimmer wird.
Ich nehme die erste Tablette ohne Wasser.
Sie bleibt stecken.
Ich schlucke.
Warte.
Dann rutscht sie.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Nicht um mich auszuruhen, nur um still zu sein.
Nur ich.
Mein Rücken an der Wand. Augen geschlossen.
Nicht denken, nicht fühlen.
Nur existieren.
Dann gehe ich.
Wieder hinaus.
Wieder leise.
Wieder langsam.
Die Stadt ist mir zu laut. Auch wenn sie flüstert. Zu viele Augen, die ich nicht sehen kann, aber die mich sehen könnten.
Zu viele Möglichkeiten, dass jemand ruft.
Dass jemand fragt.
Ich ziehe mich zurück. An die Küste, hinter den Hafen, zwischen die Felsen. Dort finde ich eine Landzunge. Klein. Kahl. Aber versteckt und lege mich schlafen.
Als es Abend wird, wache ich auf. Es geht mir etwas besser.
Ich nutze das verbliebene Tageslicht und baue mir einen Unterschlupf aus Stöckchen. Er wackelt im Wind, aber es ist meiner.
Und niemand schreit hier.
Niemand trinkt.
Niemand fasst mich an.
Dann höre ich Schritte. Einer nur. Nah.
Ich verstecke mich hinter den Felsen, halte den Atem an.
Ich erkennen einen Mann. Ich kenne ihn nicht. Er bleibt stehen. Sieht übers Wasser. Sagt nichts.
Dann geht er.
Und ich atme wieder. Langsam. Fast lautlos.
Wie früher, wenn ich im Schrank saß. Ich warte. Lange.
Aber ich bin nicht gesehen worden, glaube ich.
Am Abend sitze ich bei meinem Unterstand. Ich huste noch etwas. Leise. Die Tabletten wirken.
Ich atme wieder.
Ich bin noch hier.
Ich angle. Zwei, drei kleine Fische und räuchere sie zwischen Steinen.
Keine Flammen, nur Glut. Kein Rauch, den jemand sehen könnte.
Ich esse langsam. Nicht, weil ich Hunger habe, sondern weil ich weiß, dass ich muss.
Mir geht es besser, aber ich bin nicht stark. Ich bin nicht mutig.
Aber ich bin da.
Still, aber da.