Tag 1
(Das Papier ist leicht wellig, als hätte es Feuchtigkeit gezogen. Die Schrift ist klein und geordnet, aber an manchen Stellen zittrig, als hätten die Hände, die sie schrieben, gezögert oder nach Halt gesucht. Die Tinte ist an einigen Stellen leicht verschmiert, als wäre der Stift zu lange auf einer Stelle verharrt, da die Schreiberin jedes Wort sinnvoll abwiegen wollte.)
Ich sehe das Lager schon von weitem: die hohen Palisaden aus Holz, den kleinen Wachturm, der über die Umgebung wacht, die blaue Fahne mit der Aufschrift „Refuge“ und den Schein von Feuer, der durch die Lücken im Holz hindurchflackert.
Dort, wo die Straße sich teilt, steigt aus einem Haus Rauch in den Himmel. Es riecht nach verbranntem Holz, nach warmem Essen, nach einem Versprechen von Sicherheit.
Mein Magen zieht sich zusammen.
Ich schleiche mich näher, bewege mich geduckt, meine Schritte vorsichtig. Von einer erhöhten Position aus beobachte ich die Menschen, die sich an den Zelten und Unterständen vorbei bewegen. Keine hektischen Gestalten, keine Schreie, keine gezückten Waffen – nicht sichtbar jedenfalls. Sie wirken ruhig, routiniert, als hätte jeder seine Aufgabe.
Ich sollte weitergehen und nicht stehen bleiben. Ich sollte nicht auffallen. Ich sollte es nicht riskieren, dass mich jemand bemerkt.
Doch mein Kopf pocht, mein Körper fühlt sich schwer an und meine Beine zittern. Ich bin zu müde, um eine kluge Entscheidung zu treffen. Also verharre ich auf der Stelle. Zu lange.
Ich weiß nicht, wann genau sie mich gesehen hat, aber als ich mich umdrehe, kommt sie auf mich zu.
Ihre Hand ist locker zum Gruß erhoben, ihre Haltung entspannt, aber aufmerksam. Für einen Moment bin ich perplex – wie konnte ich sie übersehen? Die rote Sanitäter-Uniform, das Symbol einer Zeit, die längst vergangen ist.
Aber da steht sie nun.
Nicht drohend, nicht misstrauisch, doch ihre Augen nehmen jedes Detail in sich auf.
Sie hat mich bemerkt.
Herz-Aus-Gold.
Sie beobachtet mich, nicht fordernd, nicht drängend, aber lange genug, dass ich spüre: Jetzt muss ich mich entscheiden. Bleibe ich – oder verschwinde ich?
Meine Beine fühlen sich an wie Blei.
Ich weiß, dass ich nicht weit kommen werde, wenn ich mich jetzt umdrehe. Und sie scheint es auch zu wissen.
Ein Husten drängt sich aus meiner Kehle, trocken, kratzend, schwer zu unterdrücken.
„Das hört sich nicht gut an“, stellt sie nüchtern aber mit einer Spur von Mitgefühl fest, „Du bist krank. Brauchst du Hilfe?“
Keine Frage. Eine Tatsache.
Ich antworte nicht, halte ihrem Blick jedoch stand, während mein Körper schwankt. Ich bin es nicht gewohnt, Hilfe anzunehmen.
„Stumme Bambis sind mir die liebsten…“, beginnt sie und seufzt. Der Sarkasmus in ihrer Stimme nicht zu überhören. Aber sie scheint mein Schweigen zu akzeptieren. „Wie lange geht das schon so?“, fragt sie mich. Ihre Stimme ist ruhig, nicht fordernd, als erwarte sie keine genaue Antwort.
Ich zucke mit den Schultern. Ich weiß es nicht. Oder ich will es nicht wissen.
„Komm mit zum Camp“, bietet sie mir an. Es klingt wie eine Selbstverständlichkeit, als gäbe es keine Alternative. Und tatsächlich – es gibt keine.
Sie dreht sich um und geht, als wolle sie sagen: Komm mit oder lass es.
Ich bleibe noch einen Moment stehen, doch dann folge ich ihr.
Das Feuer wärmt meine Haut, aber nicht mein Innerstes.
Ich halte die nahrhaften Kürbisscheiben mit beiden Händen, klammere mich an die Wärme, als könnte sie das Zittern in mir vertreiben.
Herz-Aus-Gold spricht nicht sofort.
Sie lässt mich essen. Sie weiß, dass ich in diesem Moment keine Worte brauche.
Ich nehme vorsichtige Bissen, kleinere als nötig, weil mein Hals brennt und jeder Schluck sich anfühlt, als würde er mir die Luft nehmen.
Dann setzt sie sich mir gegenüber.
„Lass mich dich untersuchen.“
Ich halte inne, nicke dann vorsichtig, zurückhaltend, misstrauisch.
Ihre Fragen sind ruhig, sachlich, aber nicht kalt. Sie hört meinem Atem zu, beobachtet jede meiner Bewegungen. Dann holt sie ein kleines Päckchen hervor – einen Bluttester.
„Das wird nur kurz weh tun.“
Ihre Stimme ist sanft, fast tröstend.
Ich zucke leicht zusammen, als die Nadel meine Haut berührt. Nur ein kurzer Stich, kaum spürbar. Aber der Moment fühlt sich länger an, als er sollte. Mein Kopf schwirrt
Die Samariterin blickt mit geschultem Blick auf den Teststreifen.
Sie sagt nichts.
Dann atmet sie langsam aus.
Leise, fast an sich selbst, murmelt sie: „Das arme Ding…“
Ich verstehe nicht sofort, warum sie das sagt. Vielleicht habe ich mich auch verhört.
Aber wir belassen es dabei.
Ich bin zu müde für schlechte Nachrichten.
Als sie mich wieder ansieht, liegt da etwas anderes in ihrem Blick. Keine Überraschung, keine Hektik.
Nur Nachdenklichkeit.
Fast so, als hätte sie etwas erfahren, das sie lieber nicht gewusst hätte. Fast so, als würde sie mich bedauern.
Dann erhebt sie sich.
„Wie ich es mir dachte. Deine Erkältung hat sich verschlimmert und wenn du nichts unternimmst, wird eine handfeste Lungenentzündung draus.“
Ich halte inne.
„Du brauchst dringend Medizin, aber wir haben kein Antibiotikum mehr im Camp.“
Meine Finger krallen sich in den Stoff meiner Jacke.
„Wir hatten mal welches, aber nun ist es verbraucht oder gestohlen worden. Nur von allein wird es nicht besser werden.“
Ich blicke auf die gegarten Kürbisscheiben in meiner Hand, sehe den Dampf aufsteigen.
Es ist vielleicht das Letzte, was mein Körper heute zu Essen bekommt.
Ich weiß, was als Nächstes passieren wird.
Ich ahne es.
„Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du bleibst hier und wir versuchen, dich irgendwie am Feuer durchzubringen…“, beginnt sie und macht eine dramatische Pause, „oder du gehst nach Chernogorsk, ins Krankenhaus, und suchst dort nach den passenden Tabletten.“
Ihre Stimme bleibt ruhig. Sie wägt jedes Wort ab, aber sie gibt mir unmissverständlich zu verstehen, dass es nur diese beiden Wege gibt.
Ich atme flach aus und muss erneut stark husten.
Hierbleiben? In einem Lager voller Fremder?
Der Gedanke macht mir Angst.
Zu viele Menschen, zu viel Ungewissheit.
Ich bin es gewohnt, für mich selbst zu sorgen.
Ich kann mein Schicksal nicht in fremde Hände legen, egal wie freundlich sie scheinen.
Ich kann nicht hierbleiben.
„Egal, wie du dich entscheidest: Die Zeit drängt.“
Sie beobachtet mich, ernst.
Ich sage nichts, aber sie scheint zu erkennen, dass meine Entscheidung längst gefallen ist: Ich werde gehen.
„Es ist gefährlich dort. Wenn du gehst, geh leise, geh vorsichtig. Vertraue niemandem.“
Ich nicke, nicht aus Überzeugung, sondern weil ich weiß, dass es ohnehin keinen anderen Weg gibt.
Ich stehe auf.
Nicht, weil ich will.
Weil ich muss.
Meine Beine sind schwer, meine Haut brennt, mein Kopf hämmert, aber ich weiß, dass es keine Alternative gibt. Herz-Aus-Gold steht neben dem Feuer, beobachtet mich, als ich meinen lilafarbenen Rucksack über die Schulter werfe.
Als hätte sie längst gewusst, dass ich nicht bleibe.
„Sei vorsichtig…“, bittet sie mich noch.
Ich nicke.
Der Himmel ist grau, als ich losgehe.
„Bleib am Leben.“, flüstert sie.
Ich drehe mich nicht um.
Ich nicke nur.
Und diesmal weiß ich nicht, ob ich sie nicht gerade belogen habe.
