30.06.2023 – Im Auge des Sturms
„Ja, die Typen haben uns schön fertig gemacht“, ist das erste, das ich höre, als ich mich zu unserem Funkkanal geselle. Tabaskos Worte sind deutlich, aber er scheint an dem Ganzen auch seinen Spaß gehabt zu haben. Die Jungs haben wohl einen neuen Gegner und somit auch eine neue Herausforderung. Jedenfalls scheint das mit der Rache für Danis Basis nicht so ganz geklappt zu haben und Dani zieht zu Henrik. Eine eigenartige WG, aber gut. Während sie umziehen, kümmere ich mich um die tägliche Belange des Lagers kümmere.
Heute ist ein Tag, der sich wie ein wilder Sturm anfühlt, der uns hin und her wirbelt. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf.
Heute ist Fischfreitag, eine Idee, die vom Chernarussischen Roten Kreuz, genannt CRK, stammt, das im anderen Chernarus aktiv ist. Die United Nations Operation in Chernarus (UNOC), auch als Friedenstruppe bekannt, hatte dort die Vorräte des CRK inspiziert und bemängelt, dass Gemüse dominierend sei. Doch Shaitan vom CRK bliebt standhaft: Es gibt Kürbis und freitags Fisch, im Einklang mit alten Traditionen. Vielleicht sollten auch wir diese Praxis übernehmen. Selbst in der Apokalypse ist ausgewogene Ernährung von Bedeutung.
Samariter Rot, also Furkan, begibt sich zum Angeln nach Cap Golova. Er genießt die Meeresstimmen, während er eine Fülle von Fischen für das Bambi-Auffanglager in Prigorodki fängt. Stolz trägt er seinen Fang ins Camp und räuchert die ersten Fische über dem kleinen Steingrill. Doch plötzlich wird diese Idylle durch einen heimtückischen Schuss unterbrochen. Cyfox ist zur Stelle, sichert das Camp und die Habseligkeiten des Verstorbenen. Mit Furkans Aufnahmen auf der Helmkamera können wir einen Blick auf den Täter erhaschen – oberer Körper und Waffe. Der Täter, etwa 1,80 Meter groß, gekleidet in grüne Militärkleidung, dunkle Jagdstiefel, feuerte mit einer USG. Details des Vorfalls können auf Anfrage eingesehen werden. Hinweise zur Ergreifung des Täters sind an Officer Charly zu richten.
Die Dinge geraten außer Kontrolle, als Cyfox die geplünderten Zelte inspiziert und seinen Ärger über die Situation ausdrückt. Wieder wurde Kleidung aus dem Autozelt verstreut, eine Kiste auf dem Feldweg zurückgelassen. Ein wahrhaftiges „Danke“ für Furkan, der währenddessen für die Bedürftigen kocht. Mein Unverständnis und Empathiemangel gegenüber solchen Taten wächst. Worte versagen, wie auch die Empathie in dieser apokalyptischen Welt. Ein Mindestmaß an Menschlichkeit braucht die Welt, sonst können wir uns alle gleich kollektiv im Meer ertränken. Ich habe fertig!
Jedenfalls reise ich in den Süden, um Furkan meinen Respekt zu zollen. Kaum ist die Zeremonie beendet, da tauchen plötzlich die drei Russen vom Vortrag auf und greifen Tabasko erneut an, der am „heiligen Manfred“ weiterbauen wollte. Natürlich sind sie in der Überzahl und haben das Moment der Überraschung auf ihrer Seite. Tabasko kämpft verwegen und tapfer, aber zieht dann letztlich doch den Kürzeren. Tja und ausgerechnet mitten in dieses Chaos stürzt unser Custer, der nach einer kurzen Auszeit zurückgekommen ist und nun tatkräftig helfen möchte, zu uns. Das ist lieb gemeint, aber der Gute hat leider ein gewisses...Talent dafür, Schüsse oder Gefahren anzuziehen. Ich weiß nicht, wer schlimmer ist. Wir Samariter oder er. Wobei er die Gefahr selten sucht, sondern sie ihn einfach nur sofort findet. Trotz Allem ist er ein herzensguter Mensch und ich bin froh, seine Stimme zu hören. Im Camp ist es jedoch zu gefährlich für ihn. Wer weiß, was die drei schießwütigen Russen vorhaben und ob ihr Versprechen, uns und dem Lager nichts zu tun auch für ihn gilt. Wolfgang gestern haben sie verschont, aber nur, weil er ausgesprochen besonnen reagierte. Custer dagegen ist ein andere Charakter und ich weiß nicht, ob seine falschverstandene Freundlichkeit für sie nur ein weiterer Angriffsgrund wäre. Die Worte von Ronin sind noch in meinem Kopf. Wenn er eine Waffe hat, wird er erschossen. Ich weise Custer darum an, sich schnell etwas entfernt vom Camp zu verstecken und sich bloß nicht zu erkennen zu geben. Er tut wie geheißen und meint, er wird mich schon beschützen, wenn es notwendig wird. Das ist irgendwie süß von ihm, aber ich glaube, gegen diese Gegner hätte auch er keine Chance. Schließlich betreten zwei der drei Russen das Camp, als ich gerade am Brunnen Wasserflaschen auffülle. Custer ist erst einmal in Sicherheit und beobachtet alles aus sicherer Distanz. Soweit, so gut.
Meine Kommunikation mit den beiden Neuankömmlingen ist zunächst auf das Nötigste beschränkt, denn Ronin hält sich heute im Hintergrund auf. Kein Wunder also, dass Cyber Sportsman auf mich zugetanzt kommt und einen eigenartigen Balztanz vollführt, gespickt von obszönen Lauten und Stöhnen, das wohl irgendwie weiblich klingen soll. Was will er damit bezwecken? Ich meine, klar… jeder Idiot weiß, was er damit ausdrücken möchte. Aber mal im Ernst, was erhofft er damit zu erreichen? Das ist einfach widerlich und herablassend. Am Tod von Furkan will er keine Schuld haben. Sie seien gar nicht in der Nähe gewesen.
Wäre ich allein am Camp und Custer nicht in Gefahr entdeckt zu werden, hätte ich ihm vermutlich wirklich eine verpasst. Aber so flehe ich Custer innerlich an, sich ruhig zu verhalten und bloß nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ich mache gute Miene zum bösen Spiel und hoffe, dass dieser Balzbubi lediglich seinen übermäßigen Testosteronspiegel zur Schau stellen möchte und bald wieder abzieht, wenn hier nichts Besonderes mehr los ist. Umso wichtiger, dass er Custer nicht entdeckt! Hihi „Balzbubi“. Irgendwie ein passender Name. Ja, den hat er redlich verdient! Aber auch wenn der Gedanke an diesen Namen mich amüsiert ist, so lenkt er mich doch nicht von der Tatsache ab: Ich bin gewissermaßen in Geiselhaft hier, auch wenn es keiner direkt ausspricht.
Ein Glück nur, dass Kanu am Lager hier ist. Sie würden ihn vermutlich gleich erschießen oder er würde den Balzbubi töten und dann selbst erschossen werden. Alles ist denkbar.
Plötzlich löst sich ein Schuss vom Berg über mir. Wir alle suchen sofort Schutz hinter der Mauer. Balzbubi sprintet den Berg hoch und lässt mich mit dem schweigenden Russen zurück. Schüsse. Dann ist es ruhig. Ich bin wie erstarrt. War das die Stelle, an der Custer sich versteckt hielt? Diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig, aber da Custer sich nicht meldet, spricht leider vieles dafür. Schließlich kommt der Balzbubi mit seiner erhobenen Waffe stolz angewackelt und erklärt mir, dass er den Sniper getötet habe.
Er erklärt mir bruchstückhaft, dass er gerade einen der bösen Sniper für mich ausgeknipst hat. Dieser Sniper… das war doch Custer! Stolz hält mir der schießwütige Jungspund Custers Rucksack entgegen. Wie eine Jagdtrophäe…Ich fasse es nicht. Gerade droht die Trauer mich zu überwältigen und ich möchte ihm sagen, was für ein riesengroßer Idiot er doch ist, da meldet sich Kanu per Funk. Er möchte mit dem Auto ins Bambi-Auffanglager fahren. Ich versuche ihm zu erklären, dass er das lieber bleiben lassen soll, aber er möchte es darauf ankommen lassen. Wir sind immerhin die Samariter und niemand kann uns einfach so verbieten, in unsere eigenen Lager zu fahren und anderen Leuten zu helfen. Recht hat er und natürlich möchte er mich nicht schutzlos diesen Typen überlassen.
Ich gebe seine Ankunft weiter an die beiden Russen und sage, dass Kanu, ein weiterer Samariter, in einem roten Auto hierher unterwegs ist. Nun ist auch Ronin mit von der Partie und sichert ihm freies Geleit zu. Kanu fährt vorsichtig ins Lager, wird aber sofort von dem schweigenden Russen beschossen. Die Scheibe klirrt, Kanu bremst. Der Schweigende entschuldigt sich auf Englisch und bietet uns eine Waffe als Entschädigung an, aber die brauchen wir ja nicht. Mann, Mann, Mann! Kann Ronin seine Jungs nicht einfach mal im Zaum halten?! Von wegen Versehen.
Während Kanu damit beginnt, einige Dinge im Lager auszuräumen und ich hinten die Felder bestelle, beteuert nun der Balzbubi wieder seine Liebe zu mir: „I love you! My Herz!“ Ich erkläre ihm, dass ich sein Verhalten absolut indiskutabel finde, aber er versteht nicht, was ich meine. Das Gestöhne und Getanze verletze ja niemanden, meint er und es ist auch keine Beleidigung. Ich versuche es ihm ein paar Mal geduldig zu erklären, dass er sich so in gewaltige Schwierigkeiten manövrieren wird und wir hier so etwas nicht dulden, aber er beharrt darauf, dass das alles nicht sein Problem sei. Klar. Er hat ja auch die Waffe in der Hand. Schließlich frage ich ihn, was das alles mit Tabasko soll. Warum machen sie gezielt Jagd auf ihn? Er erklärt, dass der am Turm ein lilafarbenes Armband getragen hat, wie der Schütze vom Vorabend und die Gruppe, die sie „gefickt“ haben. Ich erkläre ihm, was es mit dem Turm auf sich hat und dass Tabasko ein guter Freund von uns ist. Jetzt wird der Balzbubi hellhörig. Wenn er unser Freund ist, dann kann ich doch bestimmt Kontakt zu ihm herstellen. Ich soll Tabasko ausrichten, er solle jetzt sofort hierherkommen und sich stellen, wie ein Mann. Er will ihn und sein Haus „ficken“. Also seine Basis meint er wohl damit. Auch wenn er kaum einen korrekten Satz herausbekommt, beleidigen kann er. Ich erkläre ihm, dass das so nie funktionieren wird, aber dass ich es ihm ausrichten werde. Ich fürchte schon, dass diese Russen uns notfalls als Faustpfand benutzen könnten oder vielleicht damit drohen, das Lager zu zerstören. Aber was können wir schon tun? Wir sind nur die Samariter und keine Armee.
Aber ich kenne Tabasko. Er ist nicht der Typ für derartige Spielchen und lässt feist lachend ausrichten, dass er sein Adressschild von der Klingel seines Hauses entfernt hat, damit der Balzbubi sein Haus nicht mehr findet. Er hat einfach keine Lust, mit ihm zu Reden. Das lässt er mich mehrmals ausrichten. Ich schlucke und gebe es wortwörtlich wieder mit gesenktem Blick. Gnade uns Gott… Mein Gegenüber wird wütend, aber glücklicherweise richtet sich sein Zorn nicht gegen mich, Kanu oder das Lager. Stattdessen lässt er mich Tabasko allerlei „Nettigkeiten“ ausrichten. Nach einigem Hin- und Her beschließen die drei Russen, unverrichteter Dinge abzuziehen. Ich glaube, Ronin hat einfach keine Lust mehr auf diesen Kinderkram. Vielleicht hat er verstanden, dass sie uns erschießen und hier alles auf den Kopf stellen könnten, das aber trotzdem niemanden dazu bringen würde, hier wie gefordert zu erscheinen.
Die drei Russen fahren weiter nach Stary Sobor, wo angeblich ihre Basis sein soll. Na, das kann stimmen oder auch nicht. Ich finde die ganze Situation alles andere als angenehm. Die Jungs hoffen, dass die drei Russen weiter nach Elektrozavodsk fahren und die Straßensperre, die Hendrik dort errichtet hat, greift. Allerdings fahren sie ausgerechnet jetzt dort nicht vorbei.
Nach diesem Schock brauche ich erst einmal eine kleine Pause und suche Halt bei Kanu. Ich bitte ihn, mich mit nach Nizhnoye zu nehmen. Unterwegs höre ich wieder Custers Stimme, den es nach dem unglücklichen Schusswechsel an die Küste in den Westen verschlagen hat. Ich sage ihm, dass ich seine Ausrüstung in einem Versteck gesichert habe und er sie sich dort wieder abholen kann. Er erklärt etwas hilflos, dass sich versehentlich ein Schuss gelöst hat und der Fremde ihn dann sofort gefunden und erschossen hat. Oh Mann… Custer hat wirklich ein ausgesprochenes Pech.
In Nizhnoye treffen wir auf einen weiteren Überlebenden namens Alex. Wir grillen ein Huhn gemeinsam über einem Lagerfeuer und bauen am Ende noch einen Ofen hinter dem kleinen Verschlag, den ich zugebaut habe. Dazu muss ich noch einen Hammer aus Solnichniy holen, aber der Aufwand lohnt sich jeden jeden Fall. Wir räuchern noch ein zweites Huhn und bald lassen wir uns das köstliche Fleisch schmecken. Es tröstet uns etwas über die Ereignisse des heutigen Tages hinweg. Schließlich setzt Alex seinen Weg fort und wir wünschen ihm alles Gute und dass er am Leben bleibt.
Der Abend endet in relativer Stille, unterbrochen nur von einem Angriff auf Henrik, bei dem er eine Falle erfolgreich einsetzt. Die Ruhe ist trügerisch, ein fragiler Moment im Herzen des Sturms. In diesem Chaos fühlt es sich an, als stünde ich im Zentrum des Geschehens, gleichzeitig jedoch gefangen im Auge des Küstensturms, ohne zu wissen, welche Richtung er einschlagen wird. Ich möchte mehr, als immer nur mitgerissen werden!