Prolog
Ich wünschte, ich könnte schreiben, dass nach den Ereignissen in dem kleinen verschlafenen Vorort Prigorodki, der zwischen den beiden Küstenstädten Chernogorsk und Elektrozavodsk liegt, viel Zeit vergangen ist. Ich wünschte, ich hätte erfahren, dass diese Zeit tatsächlich die Wunden geheilt hat, die der heimtückische Anschlag eines getarnten Überlebenden auf meinen geliebten Partner Kanu in unsere Herzen gerissen hat. Ich wünschte, ich könnte sagen, dies sei ein Neuanfang. Ein Wipe, wie wir Überlebenden dieses Ereignis nennen. Doch stattdessen sind keine zehn Stunden vergangen und ich hänge gefühlt noch immer in der Luft, während ich meine Sachen packe und mich in Richtung der großen Stadt Berenzino im Norden begebe.
Vorweg: Kanu ist zurück. Das mag für den einen oder anderen Leser komisch klingen, aber hier in Chernarus gibt es eigenartige Regeln. Diese Welt ist nicht mehr die, die wir einst kannten. Die Himmel über Chernarus sind grau und verhangen, als ob die Natur selbst um das verlorene Leben trauert. Eine unbekannte Epidemie, wir nennen es das Zombievirus, hat die Menschheit ins Chaos gestürzt. Die Straßen, die einst von den Schritten der Menschen belebt waren, sind nun von jenen bevölkert, die dem Virus zum Opfer gefallen sind. Sie sind nicht mehr lebendig, sondern wandelnde Hüllen, getrieben von einem unstillbaren Hunger nach Fleisch.
Es gibt keine Hoffnung auf Rettung von außen. Die globale Kommunikation ist zusammengebrochen und mit ihr die alte Ordnung, und die wenigen Überlebenden, die noch übrig sind, kämpfen tagtäglich erneut um ihr Leben. Aber Ressourcen sind knapp, und Vertrauen ist noch knapper. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und Allianzen werden in Sekunden geschmiedet und gebrochen. Die Straßen sind gefährlich geworden, nicht nur wegen der Zombies, sondern auch wegen derjenigen, die noch bei Verstand sind und bereit sind, für eine Handvoll Dosen, eine Flasche Wasser oder wie in Kanus Fall ein altes Auto, eine Olga, zu töten.
Chernarus hat seine eigenen Regeln entwickelt. Das Sterben ist hier nichts Endgültiges. Der Tod ist ein ständiger Begleiter, aber wir haben gelernt, dass er nur ein vorübergehender Zustand ist. Wenn wir sterben, wachen wir an der Küste wieder auf, nackt und manchmal ohne Erinnerung an das, was passiert ist. Ein Neuspawnen nennen wir das. Es ist ein Konzept, das wir akzeptiert haben, vielleicht um unsere eigene geistige Gesundheit zu bewahren. Ein Wipe hingegen ist wie ein kollektiver Neustart. Als ob das Universum selbst beschlossen hat, dass wir eine zweite Chance verdienen. Wenn dieses Ereignis eintritt, fangen wir alle wieder bei Null an und alles, was wir zuvor mühsam aufgebaut haben, ist weg. Es bleiben nur unsere Erinnerungen. Erinnerungen, an eine bessere Zeit und dann die Ereignisse, die wir gemeinsam schon überstanden haben.
In dieser düsteren Welt gibt es keine Gewissheiten. Alles, was wir hatten, wurde weggenommen, und wir sind dazu verdammt, Tag für Tag um unser Überleben zu kämpfen. Und dennoch gibt es Momente der Menschlichkeit, der Solidarität, die uns daran erinnern, dass wir mehr sind als nur Opfer. Tja und hier kommen wir ins Spiel. Wir nennen uns die Samariter von Chernarus und sind eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Überlebenden. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, in den rauesten Zeiten des Zombievirus-Ausbruchs Hoffnung und Menschlichkeit zu bewahren und sie vor allem zu zeigen. Manchmal sogar bedingungslos. Wir streifen durch die gefährlichen Landschaften, errichten Lager an der Küste und bieten so Hilfe an. Wir sammeln Ressourcen für die Bedürftigen und setzen uns trotz der apokalyptischen Realität für ein besseres Morgen ein. Was anderes bleibt uns nicht.
Unsere Geschichten sind Teil eines größeren Ganzen, das von Mut, Stärke und der Suche nach einem Funken Hoffnung geprägt ist. Eben diese Geschichten und was wir mit unseren Freunden, Bekanntschaften und manchmal auch Widersachern erleben, schreibe ich hier konsequent auf. Vielleicht auch, um nicht ganz den Verstand zu verlieren und mir immer wieder zu versichern, dass es da draußen noch „gute“ Menschen gibt. Vielleicht auch, um irgendwann einmal der Welt zu zeigen, dass selbst angesichts der Apokalypse Menschlichkeit gezeigt werden kann und sollte.
Wenn ich auf diese verlassenen Straßen schaue, auf die Ruinen einer einst blühenden Welt, frage ich mich oft, wie wir hierher gelangt sind. Die Zeiten sind düster, und doch finde ich Trost in der Tatsache, dass wir noch immer kämpfen, noch immer hoffen, noch immer leben. Wir sind noch hier und unsere Geschichten berichten von einer Welt im ständigen Wandel, einer Welt, die von den Schatten der Vergangenheit heimgesucht wird und dennoch Zeichen der Hoffnung in die Zukunft trägt.
Okay, das war jetzt wieder sehr theatralisch. Nun gut. Wo war ich? Achja. Der erhoffte Neustart, also der Wipe bleibt aus. Ich hätte ihn nie dringender gebraucht!
Als Kanu direkt vor unserem Lager hinterhältig von einem Typen in Tarnkleidung erschossen wurde, und ich nichts weiter tun konnte, als zitternd und feige in einem Verschlag zu kauern und meine bebenden Hände um meine metallene Waffe schlang, während von der Straße her die Schüsse donnerten, da brach etwas in mir. So oft habe ich selbst solche Situation erlebt, als auf mich geschossen wurde. Heimtückisch aus dem Hinterhalt, selten von vorne. Damit komme ich inzwischen klar und habe es gelernt zu akzeptieren, dass es da draußen einfach auch kaltblütige Mörder gibt. Aber nun hilflos zu hören, wie mein geliebter Partner kaltblütig abgeknallt wurde, nur damit der Mörder sein Auto an sich reißen konnte, das war ein einschneidendes Erlebnis.
Wir hatten so große Hoffnungen in dieses Lager und das Auto gesetzt. Es sollte der Neubeginn sein, der alles wieder ins rechte Lot bringen würde. Und nun das.
Ein Neustart wurde uns auf allen Ebenen verwehrt. Es gibt keinen reinen Tisch. Wir müssen mit unseren Erlebnissen leben und einen Weg finden, unsere Mission trotzdem fortzuführen. Außerdem kündigt sich eine wahre Welle an Hilfsbedürftigen an. Der Neustart blieb für uns aus, doch es gibt da draußen noch Überlebende eines anderen Chernarus, die nun gerade gewissermaßen in der Schwebe hängen, ehe es für sie wieder von vorne losgeht. Erfahrungsgemäß schauen viele von ihnen in dieser Zeit des Übergangs hier bei uns vorbei und ist unsere Pflicht als Samariter, darauf vorbereitet zu sein. Daher habe ich am Vortag bereits einige Vorräten in den Unterständen und Zelten bei unserem Bambi-Auffanglager oder auch Bambi-Camp in Prigorodki deponiert. Alles ist bereit und als ich meine Sachen gepackt habe, breche ich auf in den Nordosten. Auf nach Berenzino.