Unbekanntes Datum – Das große Finale (8): Die Rückkehr

“High above it all (Above it all)
Victorious, victorious
Far too long I've grown (Far too long)
In hopelessness,
I′m over it”
Hikaru gibt das Signal von Black Lion weiter. Wir nehmen Kurs auf das Schiffswrack vor Prigorodki. Keine schlechte Wahl, denke ich. Vielleicht hat jemand eine rote Samariteruniform dabei? Ein Verwirrspiel könnte uns Zeit verschaffen. Aber leider Fehlanzeige. Also gut, wir machen es anders. Obwohl mir der Gedanke, an der Küste anzulegen, nicht gefällt (ein großer Bogen wäre meiner Meinung nach sicherer), vertraue ich meinem schwarzen Löwen. Er weiß, was er tut. Er muss es wissen!
NiggoB landet das Boot mit beeindruckender Präzision hinter dem Schiffswrack. In der Ferne höre ich Schüsse. Sie sind noch weit weg, aber dennoch… verdammt! Ich beiße die Zähne zusammen. Prigorodki ist unser Treffpunkt. Es gibt kein Zurück und wir müssen da mitten durch. Geduckt bewegen wir uns die Küste entlang. Der Strand gibt uns Deckung, aber ich fühle mich trotzdem wie auf einem Präsentierteller in meiner roten Uniform. Die Felsen bieten nur wenig Schutz. Mein Herz schlägt schneller. Es ist wie damals, als das Camp von Scharfschützen belagert wurde. Ich wiederhole den alten Leitsatz in meinem Kopf: „Sie müssen dich erst einmal sehen.“ Wie oft haben wir solche Situationen in unseren Trainings durchgespielt? Ich hätte nie gedacht, dass es auf diese Weise ernst werden würde. Aber ich bin vorbereitet.
Ich weise mein Begleitung an, sich genauso tief zu halten wie ich. Wir dürfen keinen Fehler machen.
Hikaru meldet, dass Pinky auf dem Weg zu uns ist. Erleichterung durchströmt mich. Mit ihm wird alles einfacher. Pinky ist gut, verdammt gut. In allem, was er tut. Kurz darauf kommt der Befehl aus der Einsatzleitung: Vorstoßen bis zum Zaun. Stück für Stück nähern wir uns der Mauer. Smokey Eyes hat den Rohbau im Blick. Perfekt. Dieser Ort ist ein Sicherheitsrisiko erster Klasse und es beruhigt mich, dass sie ihren scharfen Blick darüber wachen lässt.
Wir warten hinter einem Felsen. Ich nutze den Moment, um Niggo kurz zu erklären, wie ich überhaupt wieder an der Küste gelandet bin. Die Explosion… Sie hat mich erwischt. Tödlich. Ein bitterer Geschmack steigt mir im Hals hoch. Trotzdem rede ich ruhig weiter, als würde ich eine alte Geschichte erzählen. „Es war die Granate, glaube ich. Ich bin gefallen und dann wieder aufgewacht, an der Küste. Solnichniy. Tja und hier bin ich. Lebendig. Zumindest irgendwie.“
Die letzten Meter legen wir kriechend zurück. Der feuchte Sand dringt in meine Kleidung, aber ich spüre ihn kaum. Mein Körper ist in besserer Verfassung als noch vor Stunden, doch das Adrenalin trägt mich mehr als meine Muskeln. Die Aussicht, Prigorodki zu erreichen, treibt mich an. Wir schaffen das.
Schüsse knallen irgendwo im Rohbau. Mein Magen zieht sich zusammen. Smokey! Ich habe keine Ahnung, was vor sich geht. Niggo prescht vor, ich folge dicht hinter ihm. „Ist es sicher?“, keuche ich. „Nein“, entgegnet er knapp. Natürlich nicht. Wir werfen uns wieder in Deckung, bevor uns jemand bemerkt. Endlich erreichen wir die Steinmauer. Ich kauere mich ins Gras, atme flach, mein Blick wandert nervös umher. Da sehe ich ihn – eine Gestalt im Ghillie-Anzug. Mein Herz setzt aus. Freund oder Feind? Aber Niggo bleibt ruhig, und ich erkenne, wer es ist: Pinky. Er bezieht sofort seinen Posten und sichert den Bereich.
Hikaru kriecht voran, ich folge. Der Boden ist feucht und kalt, aber er bietet Schutz. Schüsse donnern erneut. „Deckung, Deckung, Deckung!“, schreit Niggo von hinten, und ich ziehe mich hastig zurück. Verdammt! Wir waren so nah. Jetzt nur keine Panik; wir dürfen nicht die Nerven verlieren. Ich verberge mich hinter einem roten Busch, mein Atem stockt. Hikaru hat die Mauer erreicht, während Niggo und Selina im Gras vor mir kauern. Ich lasse mich noch etwas zurückfallen und versuche, die kleine Kuhle hinter mir als Deckung zu nutzen. Doch dann sehe ich es: Niggo und janinesta (Selina) richten sich auf, gehen in die Hocke, zielen und feuern. Schüsse folgen.
Ein Moment der Stille. Dann fallen beide, ihre Körper sacken leblos zusammen. Selinas Gesicht – weit aufgerissene Augen, eingefroren in purem Schrecken – brennt sich in mein Gedächtnis und liegt nun fast direkt neben mir. Mein Atem stockt. Nur mit Mühe kann ich einen Aufschrei unterdrücken. „Bleib ruhig, Herz! Beweg dich nicht!“, versuche ich mich zu beruhigen. Ich denke an s-tlk, unseren Grauen: „Wenn du dich nicht bewegst, sehen sie dich nicht.“ Ich hoffe so sehr, dass er recht hat.
Erneut fallen Schüsse, aber nicht auf mich. vielleicht erwidern meine Freunde das Feuer. Was ist mit Hikaru? Ich möchte aufstehen, nach ihr sehen. Aber stattdessen kauere ich mich verzweifelt in den roten Busch. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Bitte lass den Schützen mich nicht entdecken! Minuten des Wartens vergehen, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlen.
Dann eine Stimme. „Herz! Wo bist du?“ Es ist Hikaru. Ich bin unsagbar froh und flüstere „Ich bin hier, ich bin hier!“. Nur Mühsam kann ich die Tränen zurückhalten und schleiche mich vor zum nächsten Busch, sodass sie mich sieht. „Der Schütze ist tot! Pinky hat ihn erwischt…“, sagt sie knapp. Ich atme erleichtert auf: „Das ist gut, das ist sehr gut!“ Aber der Schock und der Verlust von Niggo und Selina sitzen noch zu tief. Ich habe nur ein Ziel. Ich muss Prigorodki erreichen, damit sie sich nicht umsonst für mich geopfert haben.
Hikaru erklärt mir ihren Plan: Wir werden entlang der Mauer laufen und dann ins Lager vordringen. Wir müssen es riskieren. Hikarus Anweisungen sind präzise und sie wirkt enorm fokussiert. „Ich muss nachher Jay sagen, dass du eine verdammt gute Lehrerin hattest…“, mache ich den beiden ein Kompliment. Hikaru hat so viel von Jay über den Kampf gelernt. Sie ist nicht mehr die zurückhaltende Samariterin von einst. Sie weiß, wie man kämpft und sie ist vor allem auch bereit dazu. Sie riskiert so viel für mich… das tun sie alle. Wie kann ich das je wieder gut machen? Prigorodki. Ja… ich muss Prigorodki erreichen, dann wird alles gut. Es muss!
Ich nutze jeden Busch als Deckung und weiter geht es. Pinky hält Ausschau, Hikaru sucht mit ihrem wachsamen Blick die Umgebung ab, die Waffe fest umklammert.
Als wir am Rohbau vorbeikommen, warte ich noch kurz in einigen Büschen auf das Go. Pinky prüft die Umgebung und Hikaru ruft nach mir. „Herz, komm!“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und sprinte geduckt los. Wir erreichen den Sumpf und den kleinen See und wechseln die Seite der Mauer. Es ist enorm gefährlich, so nah am Rohbau vorbeizugehen und ich sehe auch kurz einen Überlebenden vorbeihuschen, aber Hikaru beruhigt mich, dass es nur Pinky ist.
Immer weiter nähern wir uns dem Rohbau und zwei Zombies schleichen schon vor der Baustelle vorbei. Wenn sie uns bemerken, sind wir geliefert. Dann weiß jeder, dass wir hier sind!
So leise wie möglich schleiche ich an ihm vorbei. Hikaru schießt auf die Zombies, Granaten werden in der Ferne gezündet. Ein Ablenkungsmanöver? Vielleicht.
Wir erreichen die Mauer vor dem Bahnübergang. Die letzte Hürde… Das Camp ist nun zum Greifen nah!
Wir gehen hinter der Mauer in Deckung. Hikaru erklärt, dass Pinky und Kanu nun das Camp stürmen werden und dass wir dann alles auf eine Karte setzen müssen. Sind die beiden Wahnsinnig? Aber die Zeit drängt immer mehr und wir dürfen es jetzt nicht vermasseln!
Ich ringe mit meinen Gedanken, dann breche ich das Schweigen: „Können wir rein?“ Meine Stimme klingt leiser, als ich wollte, und verrät meine Unsicherheit. Hikaru bleibt wachsam, ihre Augen wandern unaufhörlich über die Umgebung. „Moment noch“, sagt sie knapp. Ihre Entschlossenheit gibt mir einen Funken Halt, aber meine Nerven liegen blank.
Plötzlich zerreißen Schüsse die Stille. Sie hallen aus dem Camp heraus, laut und chaotisch, immer mehr und immer näher. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Verdammt… Black Lion und Pinky! Sind sie unter Beschuss? Wurden sie getroffen? Haben auch sie sich für mich geopfert? Der Gedanke schnürt mir die Kehle zu. Ich will schreien, die angestaute Angst und Verzweiflung aus mir herausbrüllen, doch Hikarus Präsenz erdet mich. Sie ist da, wachsam, ruhig – ein Fels in der Brandung.
Wieder fallen Schüsse, immer dichter, immer lauter. Keine Ahnung, wer noch am Leben ist, keine Ahnung, woher der nächste Angriff kommt. Doch plötzlich, ohne Vorwarnung, stürmt Hikaru los. Ihr Griff um ihre Waffe ist fest, ihre Schritte entschlossen. „Los, los, los!“, ruft sie, ohne sich umzudrehen. „Komm schon! Zick, zack! Zick, zack!“
Mein Körper reagiert, bevor mein Verstand es begreifen kann. Ich sprinte hinter ihr her, geduckt und so schnell ich kann. Die Welt um mich herum verschwimmt. Das Gras peitscht gegen meine Beine, die Straße fliegt unter meinen Füßen vorbei. Der Zaun des Camps rückt immer näher. Ein letzter Kraftakt, und ich stolpere hinein. Durch das vertraute Tarnnetz. Keine Minen, alles ist ruhig. In der Mitte des Camps komme ich zum Stehen. Ich keuche, mein Herz erholt sich langsam. Eine tonnenschwere Last fällt von mir ab: Wir haben es geschafft. Wir sind in Sicherheit!